2018
HAZ vom 29.12.2018, S. 21:
"Zustände sind nicht zu verantworten“
Ungeziefer, Baumängel, Dreck: Romafamilien hausen in einer Containeranlage in Lahe.
Nur 150 Meter entfernt wird eine neue Unterkunft gebaut – doch sie wird seit 18 Monaten nicht fertig.
Von Jutta Rinas
Ein in Grau gehaltener, schmaler Gang, fensterlos. Die Wände, der Boden, alles zerkratzt. Die Türen zu den Zimmern: teilweise völlig kaputt. Anschlüsse liegen frei, Kabel hängen aus den Wänden. Deckenlampen fehlen. Wer die städtische Obdachlosenunterkunft in der Alten Peiner Heerstraße in Lahe betritt, dem schlägt nichts als Trostlosigkeit und Verwahrlosung entgegen. Wer glaubt, er habe beim Anblick des Erdgeschosses schon das Schlimmste gesehen, irrt. Im ersten Stock der heruntergekommenen Containeranlage liegen alte Teppiche mitten in dem verdreckten Gang, von dem die schmalen Zimmer der Bewohner abgehen.
Selbst die ausgerechnet in Rosa gestrichenen Wände sind verschmiert. Umgekippter Sperrmüll steht dort, dazwischen – verlassen – kaputtes Kinderspielzeug.
Zwölf Erwachsene, dazu auch noch 23 Kinder, zumeist Roma und Sinti, müssen nach Angaben der Stadt Hannover derzeit unter diesen erbärmlichen Umständen leben. Wohlgemerkt, nicht in einer privat vermieteten Schrottimmobilie, sondern in einer Notunterkunft der Stadt. Irgendwo im Niemandsland Hannovers liegt sie, zwischen Gewerbegebiet und Autobahnzubringer, nicht weit entfernt von der städtischen Zentraldeponie. Gibt es irgendein soziales Umfeld, andere Wohnhäuser, Kita, Schule oder auch nur einen Spielplatz in der Nähe? Fehlanzeige. Die Verkehrsanbindung ist so schlecht, dass schulpflichtige Kinder mit dem Taxi in die Schule gebracht werden. „Müll und Unrat abladen verboten“ warnt ein einsames Schild auf dem holprigen Feldweg direkt vor der Einfahrt. Drum herum liegen alte Autoreifen, Sperrmüll, Gerümpel im Gestrüpp. Die Fläche vor dem heruntergekommenen Wohncontainer ist an diesem Tag eine einzige schlammige Pfütze. Spielgeräte gibt es nicht. Dafür gibt es aber offenbar immer wieder Ungeziefer: Ratten, Kakerlaken. Nach HAZ-Informationen musste zuletzt Ende November 2018 ein Kammerjäger kommen.
Quelle: Frankenberg
Verwaltung kennt die Zustände
Das Schlimmste ist: Die Zustände sind der Verwaltung in all ihrer Dramatik seit Jahren bekannt. Bereits im April 2016 richtet der zuständige Bezirksrat Bothfeld-Vahrenheide einstimmig einen dringenden Appell an die Stadt, aufgrund der „menschenunwürdigen Zustände“ endlich für Ersatz für die Notunterkunft zu sorgen. Schon damals haben die maroden Container in der Alten Peiner Heerstraße eine bemerkenswert unrühmliche Geschichte hinter sich. Bereits 2009 will der damalige Betreiber, die Johanniter-Unfallhilfe, die Container wegen „gravierender Mängel“ durch einen Neubau ersetzen: nach 25-jähriger Betriebszeit. 2011 reaktiviert die Stadt die veraltete Unterkunft, mit Blick auf den Bauzustand zunächst nur für 18 Monate. Mittlerweile sind 84 Monate daraus geworden. Mal wohnen Flüchtlinge, dann wieder Obdachlose, vor allem Familien aus Südosteuropa, darin.
Anlage sollte 2009 schließen
Ende März 2017, nach dem Hilferuf des Bezirksrates, schafft die Ratsversammlung endlich die planungsrechtlichen Voraussetzungen für den Neubau. 2,5 Millionen Euro werden nach Angaben von SPD-Ratsherr Florian Spiegelhauer, dessen Wahlbereich Bothfeld-Vahrenheide ist, dafür im Haushalt bereitgestellt. Wiederum rund ein Jahr später – Ende Februar 2018 – fragt die SPD-Fraktion im Bezirksrat Bothfeld-Vahrenheide nach, wann der Neubau fertig sei. Ein Umzug für die Bewohner der alten Anlage sei „dringend notwendig“. „Es war uns wichtig, dass die Bewohner endlich menschenwürdig untergebracht werden“, sagt Spiegelhauer. Die Anlage sei „zu 90 Prozent fertiggestellt und leider noch sehr mangelbehaftet“, antwortet die Stadtverwaltung darauf mit dürren Worten. Der Generalunternehmer befinde sich aufgrund der Vielzahl wesentlicher Mängel, zum Beispiel der fehlerhaften Ausführung der Laubengänge, im Verzug.
Jetzt, Ende Dezember 2018, also noch einmal zehn Monate später, ist die Verwaltung offenbar immer noch kaum einen Schritt weiter. Die Gesamtanlage sei zu 99 Prozent fertiggestellt, heißt es in der Antwort auf eine Anfrage der HAZ. Jedoch verhinderten wesentliche Mängel weiter eine Abnahme. Wieder führt die Verwaltung die nicht fachgerecht ausgeführten Laubengänge an. Dazu sei die Anlage nicht betriebssicher, weil technische Anlagen nicht fachgerecht ausgeführt seien. Ein mittlerweile vorgestelltes Konzept des Generalunternehmers zur Mängelbeseitigung sei einvernehmlich abgestimmt: die Abarbeitung der Mängel habe begonnen.
Quelle: Frankenberg
Hannovers BER?
Geradezu zynisch wirkt: Die Mängel sind augenscheinlich sogar so gravierend, dass die Anlage „voraussichtlich nicht vor dem 3. Quartal 2019 fertiggestellt wird“, obwohl man das nur 150 Meter entfernt gelegene Gebäude schon lange sehen kann. Man habe den Eindruck, die sich ewig verzögernde Fertigstellung einer neuen Notunterkunft in der Alten Peiner Heerstraße entwickele sich langsam zu einer hannoverschen Variante des Baus des Berliner Flughafens, kritisiert Jutta Barth, Vorsitzende der CDU-Fraktion des Bezirksrat Bothfeld-Vahrenheide. Die Zustände seien auch mit Blick auf das Kindeswohl nicht zu verantworten. Es sei üblich, dass man dem Subunternehmer bei Baumängeln einige Wochen Frist zur Nacherfüllung einräume, sagt CDU-Ratsherr Felix Semper, baupolitischer Sprecher und Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Baurecht. Danach könne der Auftraggeber diese in der Regel selbst beseitigen und dem Subunternehmer in Rechnung stellen. Dass für eine Mängelbeseitigung ein Zeitraum von anderthalb Jahren eingeräumt werde, sei „äußerst ungewöhnlich“.
Bezirksrat ist empört
Kritik kommt auch von der SPD: Sie habe ein gewisses Verständnis dafür, dass bauliche Dinge ihre Zeit brauchten, sagt Claudia Heinrich, Vorsitzende der SPD-Fraktion des Bezirksrates Bothfeld-Vahrenheide. Aber es sei schon eine verdammt lange Zeit vergangen. „Und dass Menschen in solchen menschenunwürdigen Zuständen leben müssten, geht auf Dauer einfach nicht.“
Die Bewohner selbst versuchen offenbar noch, irgendwie mit der Situation umzugehen. Selbst in dieser vergammelten Containeranlage hält an diesem Tag Weihnachten Einzug. Zumindest das, was in bitterer Armut noch von Weihnachten übrig blieb. Die AWO verteilt bei einer kleinen Weihnachtsfeier Geschenke. Wer eines der Zimmer betritt, wird inmitten all des Elends tatsächlich mit dem Flair von Merry Christmas konfrontiert. Weihnachtsbäume sieht man da, mit Weihnachtskugeln und Lametta behängt, die Stämme zum Teil mit Backsteinen beschwert, damit sie nicht umfallen. In einem Zimmer sind die Lichterketten zugleich offenbar die einzige funktionierende Lichtquelle. „Wir tun alles für unsere Kinder“, sagt eine Romafrau und öffnet ungefragt den Kühlschrank in dem spärlichst eingerichteten Zimmer. Sie tut das offenbar, um zu zeigen, wie sorgsam sie die Lebensmittel geordnet hat.
Quelle: Frankenberg
Den Gedanken, dass ein so erbärmliches Umfeld zwingend sofort eine Umsiedlung der obdachlosen Familien nach sich ziehen müsste, zieht die Verwaltung offenbar nicht in Betracht. Bezüglich der aufgezeigten Mängel sei ein Gesprächstermin mit der Geschäftsführung des Betreibers am 7. Januar terminiert, schreibt sie trocken. In Hannover an der Podbielskistraße 115 stand – wie berichtet – eine ursprünglich für Flüchtlinge geplante Unterkunft mehr als ein Jahr lang leer. Noch in diesem Winter sollen obdachlose Familien dort einziehen, hieß es vonseiten der Verwaltung bereits Ende November. Für die Sinti und Roma aus Lahe kommt diese Unterkunft als ein neues, menschenwürdiges Zuhause offenbar nicht in Betracht. Auf die Frage, wann ihre marode Unterkunft endlich geräumt wird, antwortet die Verwaltung der HAZ jedenfalls schlicht: Ein Umzug der Bewohner/-innen in die neue Anlage sei erst nach Fertigstellung im dritten Quartal 2019 möglich.
HAZ vom 27.12.2018, S. 18:
Nicht allein unter der Brücke
Die Drogenhilfe Neues Land hilft mit dem Projekt "Christma in the city" Bedürftigen über die Feiertage
Von Gunnar Menkens
Unter der Raschplatzhochstraße, wo sich kalter Wind manchmal besonders fies zu bündeln scheint, ließen sich am Dienstagnachmittag, an diesem 25. Dezember, besser bekannt als erster Weihnachtsfeiertag, einige Dutzend Menschen die Aussicht auf innere Wärme nicht entgehen. Es waren Wohnungslose und Bedürftige, die sich beim Kontaktcafé der christlichen Drogenarbeit Neues Land auf Bratwürste vom Grill, Punsch ohne Alkohol, Kaffee, Tee, Kekse und einen Krökeltisch freuten. Wer mochte, konnte mit Sozialarbeitern sprechen. Man kennt sich inzwischen, die Container unter der Brücke sind eine bekannte Adresse in der Szene.
Zu Weihnachten und der „Christmas in the City“-Woche der Hilfseinrichtung kamen auch auswärtige Ehrenamtliche für ein paar Tage zu Besuch nach Hannover. Isabelle Prochnau, 20, aus Bünde in Nordrhein-Westfalen, stand am Dienstag mit strahlendem Lächeln in der kleinen Küche im weihnachtlich dekorierten Bauwagen und half, wo Hände gebraucht wurden. Im Alltag lernt sie Einzelhandelskauffrau, die soziale Arbeit aus christlicher Überzeugung heraus führte auch in diesem Jahr zu einem „richtigen Weihnachten, bei den Armen“.
„Langsam die Luft raus“
Als sie das erste Mal mit Obdachlosen zu tun hatte und die Bedingungen sah, unter denen sie lebten, war sie erschrocken, „dass es so etwas überhaupt gab und doch nicht alles heile Welt ist“, erzählt sie. Sie sei distanziert gewesen. Jetzt hat sie Berührungsängste verloren. Stattdessen, sagt die Christin, erreiche sie nach einer Woche Engagement in Hannover doch ihre Grenze. „Jetzt geht langsam die Luft raus.“ Am Dienstag reichte es noch für den Tag und eine Stimme im Chor der Besucher, die vorm Container „O du fröhliche“ sangen. Geschrieben übrigens von Johannes Daniel Falk, der vier seiner sieben Kinder verlor und 1815 in Weimar das „Rettungshaus für verwahrloste Kinder“ gründete.
„Christmas in the City” ist ein sozial-missionarischer Einsatz von Neues Land in Hannovers Drogenszene. Zwischen 50 und 60 helfende Gäste wie Isabelle Prochnau sind nach Schätzung von Vorstandsmitglied Michael Lenzen in der vergangenen Woche dabei gewesen. Bedürftige sollten Weihnachten nicht auf der Straße allein sein, darum ging es. Nach täglicher „Bibelarbeit und Gebetszeit“ und einer Schulung, wie man auf womöglich vorsichtige und abweisende Menschen zugeht und ein Gespräch beginnt, besuchten die freiwilligen Helfer Orte der Drogenszene, Ausgabestellen für Methadon und Wohnunterkünfte. Am Heiligabend wurden kleine Geschenke verteilt.
Quelle: Kutter
HAZ vom 20.12.2018, S. 17:
„Ist es besser, auf der Straße zu schlafen?“
Der Verein Little Home schenkt Obdachlosen winzige Unterkünfte. Die Diakonie kritisiert diese als „Hundehütten“.
Von Gunnar Menkens
Um Obdachlosen eine Unterkunft zu zimmern, brauchen Sven Lüdecke, 41, und seine Helfer: grobe Spanplatten, PVC-Fußboden, Styropor, zwei Kippfenster und eine Tür. Die fertige Box steht auf Schwerlastrollen, innen ist sie mit Campingtoilette, Feuerlöscher, Erste-Hilfe-Kasten und Rauchmelder ausgestattet. Beim Baumarkt kostet alles Material zusammen 1050 Euro. Ein Mensch kann gut stehen in diesem Obdach oder sich am Boden ausstrecken. Viel Grundfläche gibt es nicht, es sind knapp über drei Quadratmeter. Am Mittwoch schraubten und sägten der Kölner Lüdecke und freiwillige Helfer seines Vereins Little Home das erste Häuschen in Hannover zusammen. Im Januar soll ein weiteres folgen, 25 sind auf lange Sicht geplant. Bundesweit hat der Verein bislang 67 Unterkünfte in mehreren Großstädten an Obdachlose verschenkt.
Bewohnerin steht schon fest
„Unsere Unterkünfte lösen nicht das Problem der Obdachlosigkeit, aber wir sehen sie als Chance, die Straße zu verlassen“, sagte Sven Lüdecke auf dem Parkplatz eines Baumarkts in Linden am Rande einer kleinen Flatterband-Baustelle. Heute wird das Häuschen verschenkt. Besitzer sollen sich verantwortlich fühlen, während der Verein nicht mehr in der Verantwortung steht, wenn sein Geschenk beschädigt wird.
Eine Bewohnerin ist bereits ausgewählt, nach Gesprächen mit „30 bis 40“ Bewerbern fiel die Wahl des Vereins, es gibt auch einen hannoverschen Ableger, auf eine Frau. Erika, 62 Jahre alt, seit Februar 2016 nach langer Leidensgeschichte obdachlos und mit viel schlechter Erfahrung in Heimen. Ihr Häuschen wird bald auf einem Kirchengrundstück stehen. Lüdecke sagte, der Verein habe sie ausgewählt, weil sie im Laufe der Zeit eine Abwehrhaltung entwickelt habe und oft anecke. „Wir wollten ihr zeigen, dass sie trotzdem etwas bekommen kann.“ Gefällt ihr der Standort nicht, kann sie ihn an eine andere Stelle schieben. Dies ist ein weiterer Vorzug der Rollen unterm Haus: Besitzer brauchen für ihre Unterkunft samt Stellplatz keine Baugenehmigung.
Bei der Diakonie Hannover ist man wenig begeistert von der Initiative. „Das ist ein ganz schlechtes Projekt. Wir können mit Sozialarbeit aufhören, wenn wir Hundehütten hinstellen“, sagte Norbert Herschel von der Zentralen Beratungsstelle Wohnungslosenhilfe. Der Verein baue höchstens einen „Unterschlupf“, der fachlich anerkannte Standards für eine Notunterbringung weit unterschreite. Eine Nutzung als vorübergehender Ersatz für Wohnraum entspreche in seiner Art und Größe nicht der Menschenwürde. Herschel ergänzte, dass Kommunen Notunterkünfte bereitstellen. „Wir hätten dort gerne bessere Zustände, aber es gibt dort immerhin Mauern, Fenster und ein Bett.“ Sven Lüdecke und Mitstreitern billigt er hohe Motivation zu, „aber die ziehen weiter, und wir haben die Paletten hier“.
Die Diakonie hatte die Bitte des Vereins um Unterstützung zuvor abgelehnt. Dass es Kritik am Verein und seinen Boxen gibt, hat Reinhold Fahlbusch bereits geahnt. Er ist eine Art Berater der Initiative und als Vorstandsvorsitzender der Johann Jobst Wagenersche Stiftung mit sozialen Fragen vertraut.
Erster Schritt in neues Leben
In Berlin sah er sich einige der Häuschen an. Kritikern, die drei überdachte Quadratmeter für zu geringen Schutz halten, stellt er eine Gegenfrage: „Ist es etwa menschenwürdiger, draußen auf der Straße zu schlafen?“ Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu schenken könne der erste Schritt in ein neues Leben sein. Ein ehemaliger Bewohner, Patrick, 38, half am Mittwoch mit. Er ist einer von den nach Vereinsangaben 24 früheren Besitzern, die inzwischen eine Wohnung gefunden haben. Patrick hat sogar einen 450-Euro-Job, „Hausmeister und so“. Das Häuschen half ihm sehr, sagt er: „Da kannst du am Tag dein Getrödel lassen, kannst bleiben, wenn es regnet, und man wird ja auch mal krank.“
Quelle: Heidrich
HAZ vom 19.12.2018, S. 17:
Stadt eröffnet drittes Haus für obdachlose Frauen
Gebäude bietet Platz für 55 Frauen und Kinder / Umbau hat 2,9 Millionen Euro gekostet / Diskussion um Betreuungsschlüssel
Von Sebastian Stein
Noch wirken die Innenräume des vierstöckigen Gebäudes recht leer und karg. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett und ein Schrank: Nur das Nötigste zum Leben ist schon da. Ab Donnerstag soll die neue Unterkunft für Obdachlose an der Langensalzastraße dann mit Leben gefüllt werden. Zukünftig können dort 55 alleinstehende Frauen und deren Kinder einziehen, die keinen festen Wohnsitz haben. Die Stadt hat das ehemalige Grünflächenamt für 2,9 Millionen Euro saniert und umgebaut.
„Wir sind froh, dass wir vor Weihnachten noch eine Unterkunft für Frauen eröffnen können“, sagt Ralf Lüdtke vom städtischen Wohnungsamt. Wer und wie viele Menschen in das Haus einziehen, ist noch unklar. Obdachlose können sich beim Wohnungsamt an der Sallstraße melden und werden dann einem der Häuser in der Stadt zugewiesen. Für Einzelpersonen kostet die Unterbringung an der Langensalzastraße 159 Euro pro Monat. Für die Notschlafplätze, die von 18 Uhr bis am nächsten Morgen um 8 Uhr vergeben werden, wird keine Gebühr erhoben.
Quelle: Wilde
Das Haus ist überwiegend mit abschließbaren Einzelzimmern ausgestattet. Geteilt werden die Küchen und Bäder in einer Art Wohngemeinschaft. Dazu gibt es diverse Gemeinschaftsflächen und einen Kinderbereich. Baby- und Kinderbetten werden den Bewohnern bei Bedarf zur Verfügung gestellt. In der größten Wohnung stehen neun Notschlafplätze zur Verfügung.
Betrieben wird die Unterkunft vom Dienstleister Living Quarter, der vor allem in Brandenburg und an zwei Stellen in Hannover tätig ist. Bereits vor Einzug der Bewohner gibt es Diskussionen um deren Betreuungsschlüssel. Die Unterkunft wird zwar rund um die Uhr besetzt sein, allerdings immer nur mit einem Sozialarbeiter. Das sei eine ordnungsbehördliche Unterbringung und keine Hilfseinrichtung, sagt Lüdtke. Was hier angeboten werde, sei nicht das umfassende Spektrum mit psychologischer Betreuung.
Erika Heine ist noch skeptisch. Sie interessiert sich für ein Einzelzimmer, weil sie seit drei Jahren auf der Straße lebt. „Das sieht erst mal gut aus, aber noch sind keine Menschen hier“, sagt sie. Zuvor hat Heine ein Jahr in der Unterbringung am Vinnhorster Weg gewohnt und schlechte Erfahrungen gemacht. Dort gebe es so viele Missstände, dass sie schwer traumatisiert ausgezogen sei. „Das wird es hier nicht geben“, sagt jedoch Annette Meyer vom Betreiber Living Quarter.
Das Haus an der Langensalzastraße ist die dritte Einrichtung für obdachlose Frauen in Hannover. Daneben gibt es drei Unterkünfte für Männer und sechs für Familien. Insgesamt hat die Stadt 1246 Menschen untergebracht – jeweils die Hälfte in angemieteten Wohnungen und Gemeinschaftsunterkünften.
Die Auslastung in Hannover sei relativ groß, sagt Lüdtke. „Wir machen das, weil wir merken, dass die Obdachlosigkeit steigt.“
HAZ vom 17.12.2018, S. 13:
„Asphalt“ gibt es jetzt auch für Kinder
Magazin bringt Sonderausgabe
Das Wohnungslosen-Magazin „Asphalt“ gibt erstmals ein Sonderheft für Kinder heraus. Die Sonderausgabe für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren sowie deren Eltern und Großeltern ist vom heutigen Montag an in Hannover und anderen Orten auf Straßen und Plätzen für 4 Euro zu erwerben, wie Chefredakteur Volker Macke mitteilt. Auf 36 Seiten geht die Ausgabe „Asphalt Kids“ der Frage nach, wie es sei, auf der Straße zu leben.
Immer mehr Menschen in Deutschland seien wohnungslos, sagte Macke. Mehr als 50 000 lebten obdachlos auf der Straße. Kinder und Jugendliche würden immer häufiger mit dem Elend der Obdachlosigkeit konfrontiert. „Da ist es höchste Zeit, das Thema ehrlich, aber altersgerecht zu erläutern und auch auf Hilfe-Einrichtungen hinzuweisen“, sagte Macke. Die Stiftung Hannoversche Volksbank und die Diakoniestiftung haben die Kinderausgabe gesponsert.
Die neue "Asphalt Kids". Asphalt
Das 1994 vom Diakonischen Werk und dem Obdachlosenverein Hiob gegründete Magazin „Asphalt“ verkauft nach eigenen Angaben monatlich rund 27 000 Zeitungen in Hannover und weiteren 14 Städten in Niedersachsen. Rund 160 Verkäufer, die sonst über ein geringes Einkommen verfügen, bieten die Zeitung auf Straßen und öffentlichen Plätzen an. Jeder Verkäufer behält dabei die Hälfte des Verkaufspreises für sich.
HAZ vom 08.12.2018, S. 20:
170 Essen für Bedürftige an einem Tag
Ökumenische Aktion startet in 30. Saison
Von Simon Benne
In den schlichten Räumen der Heilsarmee ist er Stammgast: „Das Essen ist lecker, und man trifft hier Leute, mit denen man reden kann“, sagt der 79-Jährige. Der Rentner aus der Südstadt, den hier alle „Tele“ nennen, muss mit seinem Geld haushalten – wie eigentlich alle Gäste der ökumenischen Essensausgabe.
In den Wintermonaten organisieren verschiedene kirchliche Einrichtungen in dem Haus am Marstall 25 regelmäßig einen warmen Mittagstisch für Bedürftige. Jetzt ist die Aktion in die 30. Saison gestartet. „Im Februar 1988 haben wir angefangen, Essen auszugeben – damals noch im Turmraum der Neustädter Kirche“, erzählt Renate Mauritz.
Der Bedarf wächst
Seither ist der Bedarf fast kontinuierlich gestiegen: „Vor zwölf Jahren haben wir im Schnitt 88 Mahlzeiten pro Tag ausgegeben, in der vergangenen Saison waren es 170“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Insgesamt wurden im vergangenen Winter 14 700 Portionen serviert, für dieses Jahr rechnen die Organisatoren mit 16 000 Mahlzeiten.
Ehrenamtliche Helfer teilen das Essen aus; heute stehen Frikadellen mit Gemüse auf dem Speiseplan. Einrichtungen wie das Friederikenstift, das Catering der Nord/LB und Gastronom Cord Kelle vom Jägerhof in Langenhagen unterstützen die Aktion. Bis zum 16. März werden von montags bis sonnabends Bedürftige verpflegt. „Für viele von ihnen sind unsere Räume auch ein Ort, an dem sie anderen begegnen können“, sagt Steffen Aselmann von der Heilsarmee.
Wohnungslose und Migranten aus Osteuropa nutzen das Angebot. Unter den Besuchern seien zunehmend auch ältere Menschen, berichtet Sozialarbeiterin Isabelle Rank – und bei jüngeren Frauen sei seit einiger Zeit ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen: „Am Ende des Monats, wenn das Geld knapp wird, kommen besonders viele Menschen.“ Es sieht nicht so aus, als würde den Helfern der Essensausgabe nach 30 Jahren die Arbeit ausgehen.
Quelle: Franson
HAZ vom 07.12.2018, S. 19:
Weihnachtsfeier für Obdachlose
Fury in the Slaughterhouse organisieren Benefiz-Weihnachtsfeier
Rund 1000 Menschen werden am zweiten Adventssonntag (9. Dezember) in Hannover zur siebten „Weihnachtsfeier für Obdachlose und Bedürftige“ erwartet. Dabei gibt es für alle erneut ein kostenloses Menü aus der Küche des Kongresszentrums und ein Bühnenprogramm mit zahlreichen Musikern, wie die Initiatoren am Donnerstag in Hannover mitteilten. Neben mehreren Bands tritt auch der englische Sänger Geff Harrison auf. Das Event im Kongresszentrum steht unter der Schirmherrschaft der Rockband Fury in the Slaughterhouse.
Die Veranstalter rechnen mit 650 Erwachsenen und 350 Kindern, die zu der alljährlichen Feier kommen. Für alle Gäste steht wieder eine gut gefüllte Kleiderkammer bereit. Bei den „Barber Angels“ können sich die Besucher kostenlos frisieren lassen. Auch Hunde sind willkommen: Tierärzte und Hundetrainer verteilen Futter und Zubehör und stehen als Berater zur Verfügung.
Zudem soll jeder Gast eine Geschenktüte erhalten. Zahlreiche Sponsoren wie Supermarktketten und ein Kekshersteller unterstützen die Aktion mit Sachspenden. Moderiert wird das Fest von Fury-Gitarrist Christof Stein-Schneider und dem früheren Moderator von Radio ffn, Ecki Stieg. Für eine Benefiz-CD, die für 10 Euro erhältlich ist, haben Bands wie die Prinzen, Geiersturzflug oder Torfrock Songs zur Verfügung gestellt.
Vorbild aus Berlin
Die Feier will seit 2012 auf die Situation von Obdachlosen und bedürftigen Menschen aufmerksam machen und ihnen etwas Gutes tun. Zu den Initiatoren gehören Privatleute aus Hannovers Kunst-, Kultur- und Musikszene. Vorbild für das Charity-Essen ist eine ähnliche Aktion des Sängers Frank Zander in Berlin.
HAZ vom 26.11.2018, S. 11:
Wie kommt das Elend aus der Stadt?
Die Situation am Hauptbahnhof spitzt sich zu. Nötig sind aber nicht nur Sicherheitsdienste, sondern auch mehr Hilfe
Von Jutta Rinas
Wie die Bilder sich ähneln. Elendsgestalten in der City, inmitten gutbürgerlicher Passanten. Die Blicke oft apathisch, geprägt von Sucht. Die Körper ausgemergelt. Die Kleidung schwarz vor Schmutz, manchmal von Urin durchtränkt. Aber in den Neunzigerjahren waren es in Hannover nicht Obdachlose und Trinker aus Osteuropa, die in der Innenstadt einen erbärmlichen Anblick boten. Wer in dieser Zeit den Hauptbahnhof durchquerte, wurde mit dem Elend der offenen Drogenszene konfrontiert. Hannover war damals eine Drogenhochburg. 3000 Menschen in der Landeshauptstadt und weitere 2000 Menschen im damaligen Landkreis galten zeitweilig als rauschgiftsüchtig. Mit beklommenem Gefühl stolperte man am Bahnhof an Massen von Süchtigen vorbei: Junkies, stets auf der Jagd nach dem nächsten Schuss. Im Fußgängertunnel an der Fernroder Straße herrschten unzumutbare Zustände. Hunderte Heroinabhängige hausten in unvorstellbarem Dreck. Im Winter zog es Süchtige und Bettler bei eisigen Temperaturen in die Passerelle und in U-Bahn-Stationen der Üstra. Geschäftsleute und Passanten fühlten sich bedroht. Manche hatten Angst, allein in die Stadt zu gehen.
Eskalation am Hauptbahnhof
Es ist mittlerweile Teil der Stadtgeschichte, dass die Verwaltung unter dem damaligen Sozialdezernenten Thomas Walter die Situation in den Griff bekam. Und es lohnt sich, daran zu erinnern, wie das gelang. Denn heute, fast 20 Jahre später, eskaliert die Situation punktuell rund um Hauptbahnhof, Raschplatz und Innenstadt wieder. Erneut ist es so, dass sich Armut und Elend in ungewohnt heftiger Weise ins gutbürgerliche Stadtbild drängen. Die Treppen hinter dem Bahnhof und am Aufgang zur Lister Meile werden nicht umsonst Trinkertreppen genannt, so viele alkoholkranke Menschen aus Osteuropa versammeln sich dort. Obdachlose sorgen immer häufiger für Aufsehen, weil sie rund um den Bahnhof und in der City mit Einkaufswagen, Matratzen, Stühlen und Müll auf abenteuerliche Weise kampieren. Auch unter den Brücken nahe dem Hauptbahnhof sieht man sie immer wieder mit zerlumpten Habseligkeiten liegen.
Dem Gefühl der Verunsicherung der Bürger begegnet die Stadt inzwischen mit Sicherheits- und Ordnungsdiensten. Von den Neunzigerjahren kann man lernen, dass das allein nicht reicht. Es war damals eine Kombination aus Sanktionen und Sozialarbeit, die die offene Drogenszene drastisch eindämmte. Die 1995 gegründete Einsatzorganisation Offene Drogenszene (EOOD) der Polizei beispielsweise verhängte konsequent gegen Dealer Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Zwangsgelder und machte Hannover damit in kurzer Zeit für sie unattraktiv.
Teil des Erfolgs waren aber auch innovative Modellprojekte. Hannover war bundesweit eine der ersten Städte, die die kostenlose Abgabe von Heroin an Abhängige startete. Diese Art von Sozialpolitik, von Hardlinern wie Niedersachsens Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) als „Dealen des Staates“ kritisiert, fand Befürworter wie Hannovers damaligen Polizeipräsidenten Hans-Dieter Klosa. Hannover war 1997 zudem bundesweit die dritte Stadt, die mit dem Fixpunkt einen Ort schuf, an dem Süchtige sich unter hygienischen Umständen Drogen spritzen konnten. Diese akzeptierende Drogenhilfe ist heute in der Drogenhilfestation Stellwerk etabliert. 1991 gab es in Hannover 63 Drogentote, die Landeshauptstadt stand damit bundesweit mit an der Spitze. 2017 ist die Zahl der Drogentoten in Hannover auf noch zwölf zurückgegangen.
Quelle: Körner
Fernroder Tunnel zugemauert
Die Ratspolitik knüpft jetzt an diese Tradition an und fordert von der Verwaltung ein neues Konzept für Suchtkranke. Es braucht den Mut von damals, alte Denkschablonen hinter sich zu lassen, um neue Chancen für die City zu eröffnen. Zum Beispiel bei der Frage: Wo sollen Trinker und Obdachlose hin? In ihrem Auftrag an die Verwaltung sorgt sich die Mehrheitsfraktion, die „Vertreibung“ der Ärmsten der Armen aus der Innenstadt könne dazu führen, dass das Elend sich stattdessen in Wohngebieten ballt. Aber wohin mit ihnen? Der Trinkraum Kompass war im Winter 2017 zeitweise massiv überfüllt. Die Zahl der schwerst alkoholkranken Osteuropäer steigt. Wohnraum in der Innenstadt fehlt. In den Neunzigerjahren halfen – man glaubt es heute kaum – eine Unterkunft weit draußen in Lahe und ein Shuttlebus für Junkies. Was auf alternative Kreise zynisch wirkte und bei Pragmatikern die Frage aufwarf, ob Süchtige mitmachen würden, funktionierte von Anbeginn an gut. Als die Stadt den Bereich der alten Tivolistraße am heutigen Fernroder Straße zumauerte, um der Verelendung ein Ende zu bereiten, nahmen die Junkies die neue Zuflucht mit dem Titel Out of Rosenheim dankbar an. Mehrmals am Abend konnten sie sich in Shuttlebussen der Johanniter-Unfallhilfe in die neue Notunterkunft fahren lassen. Am nächsten Morgen fuhr der Pendelbus für Heroinsüchtige sie in die Innenstadt zurück. Die 50 Schlafplätze waren von Beginn an stets voll belegt. Die Unterkunft, heute U.D.O. genannt, hat sich bis heute bewährt.
Manchmal hilft es auch, Angebote für Süchtige an einem Ort zu konzentrieren. Das haben die 1996 eingerichtete Unterkunft in Lahe und die 1997 eingerichtete Fixerstube an der Hamburger Allee bewiesen: Befürchtungen der Anwohner, dass die Beschaffungskriminalität durch die Konzentration der Junkies exponentiell in die Höhe schießen würde, bestätigten sich nie. Es könnte sich noch als falsch erweisen, dass das Mehrheitsbündnis eine Notschlafstelle für Drogenabhängige in dem Gebäude vor dem Stellwerk abgelehnt hat. Aus Sicht des Suchthilfebeauftragten Frank Woike hätte hier die Chance bestanden, den Abhängigen, die sich nach den Öffnungszeiten am Stellwerk tummeln, einen Schlafplatz und zugleich Hilfen zur Stabilisierung ihres Lebens zu bieten. Dagegen argumentierte die SPD, es sei nicht zielführend, Drogenabhängige in einer Ecke der Innenstadt zu konzentrieren, das verschärfe Probleme mit der Beschaffungskriminalität. Stand jetzt ist: Die Süchtigen zieht es in die öffentliche Tiefgarage unter dem Fachgerichtszentrum in der Leonhardtstraße, um Heroin oder andere Drogen zu konsumieren.
Genau gegen solche Missstände war die Notschlafstelle gedacht.
HAZ vom 16.11.2018, S. 16:
„Die Straße macht tot“
Mit dem Projekt CariHope wollen Caritas und Niedergerke-Stiftung Obdachlosen ermöglichen, wieder in Wohnungen zu leben / „Stadt muss in die Gänge kommen“
Von Gunnar Menkens
Hannover. Elend auf Hannovers Straßen begegnet Andreas Schubert jeden Tag. Vielleicht hat der Vorstand der Caritas einen schärferen, weil beruflichen Blick auf das Stadtbild, doch was er sieht, sind Männer und Frauen, denen es nicht gut geht. „Die Not wächst. Es sind Menschen, die Schutz hinter Mauern suchen oder auf Parkplätzen schlafen, um die Nacht zu überstehen, bis die Tagestreffpunkte öffnen.“ Warme Räume, die Sicherheit bieten und Hilfe.
Die hannoversche Caritas schätzt, dass etwa 500 Menschen auf der Straße leben und weitere 5000 Menschen keine Wohnung haben. Ihnen gilt das neue Projekt CariHope. Gemeinsam mit der Stiftung von Ricarda und Udo Niedergerke will der Verband Wohnungslosen helfen, in ein menschenwürdiges Leben zurückzukehren. „Wer auf der Straße lebt, wird in der Regel nicht einmal 50 Jahre alt. Die Straße macht tot, wir brauchen eine Rettungsgasse für den Ausstieg“, sagte Udo Niedergerke. Ziel ist es nun, die Menschen sozial zu stabilisieren und ihnen wieder eine Wohnung zu vermitteln.
Quelle: Schaarschmidt
Zuhören und helfen
Zur Idee gehört, sich der Wirklichkeit wohnungsloser Menschen anzunähern, ihnen zuzuhören und ihr Leben zu erleichtern. Sie bekommen kostenlose Üstra-Tickets, damit sie in Notunterkünfte fahren können. Die Caritas verlängert im Winter die Öffnungszeit ihres Tagestreffs, wo Obdachlose duschen und sich umziehen können und eher vor Kälte flüchten. Es gibt nun Spinde und Gepäckboxen, um Besitz unterzubringen und vor Diebstählen zu schützen. Ein Wohnungsloser soll dafür als Koordinator mit einem Minijob beschäftigt werden. Die Hoffnung ist, dass weitere Menschen, die auf der Straße leben, beim Projekt ehrenamtlich mithelfen.
„Vertrauen müssen wir uns erarbeiten“, sagte Tatjana Makarowski. Bei der Caritas ist sie für Soziale Dienste verantwortlich. Manche der wohnungslosen Menschen hätten Verlust und Gewalt erlebt, sie müssten lernen, überhaupt um Hilfe zu bitten. Zum Beispiel um eine Wohnung. Und man müsse es aushalten, nach Jahren draußen auf der Straße, dort, wo Freundschaften entstanden sind und das Leben vertraut ist, in einer eigenen Wohnung zu leben. Auch dafür will die Caritas Unterstützung anbieten. Makarowski sagte, es helfe nicht, jemandem eine Wohnung zu vermitteln, „der keine Handlungskompetenz hat“. Deshalb gehören zur Hilfe auch Betreuung und Beratung.
Die Niedergerke-Stiftung finanziert das Projekt CariHope mit 25 000 Euro. Bei der Vorstellung am Donnerstag wurde deutlich, dass sich das Spenderpaar die Zusammenarbeit mit dem Rathaus, verantwortlich für Wohnungslose, seit Jahren besser vorstellen könnte. „Ich fühle mich da manchmal an den Spruch erinnert, dass die Stadt für jede Lösung ein Problem hat. Dezernate sprechen nicht miteinander, und wenn man nachfragt, heißt es, man sei noch nicht so weit. Unser Projekt ist auch ein Anstoß, um die Jungs im Rathaus auf Trab zu bringen, verdammt noch mal selbst in die Gänge zu kommen.“ Die Stiftung der Ärzte im Ruhestand engagiert sich seit zehn Jahren für soziale Projekte in der Region Hannover. Ungefähr so lange, berichtete Udo Niedergerke, mache er diese Erfahrung, „da ist bei uns auch etwas Frust entstanden“. Bei Verbänden wie der Caritas gehe es unbürokratischer zu.
Probleme in Notunterkünften
Die Wohlfahrtsorganisation der katholischen Kirche besitzt im Stadtgebiet etwa 100 Wohnungen. Aus diesem Bestand will die Caritas an Obdachlose vermieten, wenn etwas frei wird. Der übrige Wohnungsmarkt ist für Menschen von der Straße nahezu tot. Vorstand An-dreas Schubert kritisierte die Situation in städtischen Notunterkünften: „Dort liegen vier Menschen in einem Zimmer, alle mit unterschiedlichen Problemen, und ob die sich verstehen oder nicht, das kann man nicht machen.“ Für Obdachlose müsse derselbe Standard gelten wie für Flüchtlinge, für deren Unterkünfte umfangreiche Standards existierten, etwa für Hygiene, Ruhezonen und Kinderunterbringung.
Für die Caritas bedeutet dies für Menschen ohne Obdach mindestens: ein Zimmer mit eigener Dusche und Toilette. Udo Niedergerke forderte am Donnerstag: „Obdachlose dürfen nicht schlechtergestellt sein als Flüchtlinge.“
HAZ vom 07.11.2018, S. 18:
Von der Straße auf die Bühne
Innovatives Musikprojekt des Niedersächsischen Chorverbands soll Obdachlose zum Singen bringen
Von Susanna Bauch
Von der Straße auf die Bühne – mit einem innovativen Musikprojekt möchte der Niedersächsische Chorverband Wohnungslose zum gemeinsamen Singen animieren. Das Vorbild kommt aus der Hauptstadt. Dort wurde vor einigen Jahren der Straßenchor Berlin gegründet. Bei diesem Projekt stehen wohnungslose Menschen im Vordergrund, die nicht wieder in die Mitte der Gesellschaft gefunden haben und nun gemeinsam singen.
Auch in Hannover sollen Wohnungslose nun teilhaben können an der Unesco City of Music. „Wir wollen die Menschen einladen, gemeinsam zu singen und sich nach intensiven Proben auch an ungewöhnliche Musikprojekte heranzuwagen“ sagt Wolfgang Schröfel vom Niedersächsischen Chorverband. Die ehemalige Kulturdezernentin Marlis Drevermann und Kabarettist Matthias Brodowy sind als Mitinitiatoren überzeugt, dass gemeinsames Musizieren nicht nur Freude macht, sondern die Menschen stärkt und ihnen hilft, sich in die Gemeinschaft der Stadt zu integrieren. „Wir sind zuversichtlich, dass ein neuer interessanter Chor entstehen wird, der sich im Musikleben der Stadt seinen Platz erobern wird.“
Auch die Bürgerstiftung fördert das Engagement, „mit dem Chor können die in der Stiftung engagierten Bürger in ganz besonderer Weise wohnungslose Menschen unterstützen“, sagt Vorstandsvorsitzende Dorothea Jäger. Und Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes freut sich über das Engagement und hofft, dass der eine oder andere durch die Arbeit in der Gemeinschaft des Chores und die Bühnenerfahrung Stärkung für die Rückkehr in das selbstständige Leben erfährt. Geprobt wird jeden Dienstag um 10.30 Uhr. Interessenten sind herzlich willkommen. Gesungen wird mit Chorleiter Peter Supthut und Sozialarbeiter Willi Schönamsgruber im „Workshop“ des Pavillons, ein gemeinsames Mittagessen im Mezzo schließt sich an die Proben an.
Quelle: Wilde
HAZ vom 13.10.2018, S. 17:
Trinkerszene zieht vor den Bahnhof
Wegen der Kontrollen des Ordnungsdienstes versammeln sich weniger Obdachlose am Raschplatz. Statt dessen lagern sie nun vor Kaufhof und Kaufland.
Von Andreas Schinkel
Die Patrouillengänge des neuen städtischen Ordnungsdienstes zeigen erste Wirkung – nicht immer im Sinne von Anwohnern und Geschäftsleuten. So lässt sich vor den Türen Kaufhofs gegenüber dem Hauptbahnhof regelmäßig eine Trinkergruppe nieder, auf dem Andreas-Hermes-Platz dünnt sich die Szene aus. „Die Trinker- und Süchtigenszene gerät in Bewegung“, sagt Martin Prenzler, Geschäftsführer der City-Gemeinschaft. Menschen, die sich zuvor hinter dem Bahnhof aufhielten und wegen Fehlverhaltens von den Ordnungskräften ermahnt wurden, zögen vor den Bahnhof. Das bestätigt die Stadtverwaltung. „Nach der Intensivierung der Tätigkeit des Ordnungsdienstes rund um den Hauptbahnhof ist in Teilen eine Verlagerung der Trinker- und Obdachlosengruppen zu beobachten“, sagt Stadtsprecherin Konstanze Kalmus. Einige Gruppen hielten sich jetzt auf dem Ernst-August-Platz auf. Man behalte die Situation im Blick.
Quelle: Daniel Meier
40 Ordnungshüter im Einsatz
Die Bundespolizei, zuständig für den Bereich Hauptbahnhof, bestätigt die Beobachtungen. „Wenn der Kontrolldruck steigt, weicht die Szene aus“, sagt Detlef Lenger, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Hannover.
Rund 40 Ordnungshüter laufen jetzt in blauen Uniformen Streife, vor allem im Innenstadtbereich. Sie dürfen Personalien feststellen, Bußgeld verhängen und sogar Platzverweise aussprechen. Raschplatz, oder Andreas-Hermes-Platz und Weißekreuzplatz in Nachbarschaft des Pavillons, bekannte Treffpunkte für die Trinker- und Drogenszene, gehören zu ihren ständigen Routen. Auf dem Raschplatz patrouillieren zusätzlich Sicherheitsleute der Firma Protec. „Die Mitarbeiter sind dort fast ständig mit zwei Mann präsent“, sagt Thomas Heinemann, Geschäftsführer der Hannover Region Grundstücksgesellschaft (HRG), Eigentümerin des Areals. Neuerdings verstärkt die Polizei ihre Kontrollen auf dem Steintorplatz und zeigt zusammen mit städtischen Ordnungshütern Präsenz.
Das strengere Durchgreifen hat Konsequenzen. „Wenn jemand ständig kontrolliert wird, sucht er sich einen anderen Aufenthaltsort“, sagt Bundespolizeisprecher Lenger. Klar sei auch, dass Trinker und Obdachlose nicht auf abgelegene Plätze ausweichen, sondern sich dort versammeln, wo andere Menschen unterwegs sind. „Sie wollen am Leben teilnehmen, und das ist verständlich“, sagt Lenger. Anwohner im Umfeld des Weißekreuzplatzes berichten, dass sich Trinkergruppen neuerdings vor dem Kaufland-Eingang in der Rundestraße niederlassen. Andere Anwohner meinen, dass sich die Szene in die Wohnstraßen der List verlagere. Das dementiert die Stadt. „Eine Verlagerung in die List hat nach unseren Erkenntnissen bisher nicht stattgefunden“, sagt Kalmus. Grundsätzlich werde man dafür Sorge tragen, dass auch an möglichen neuen Orten störende Verhaltensweisen unterbunden und bestehende Regeln eingehalten werden.
Die Stadtverwaltung arbeitet derzeit an einer einprägsamen, zentralen Rufnummer, für den städtischen Ordnungsdienst. Die Mitarbeiter sollen für die Bürger schnell erreichbar sein. „Sobald die Nummer feststeht, werden wir sie kommunizieren“, sagt Stadtsprecherin Annika Schach. Die Stadt prüft unter anderem, ob sie die zentrale Behördennummer 115 einführt. Mehr als 500 Kommunen haben sich deutschlandweit dem 115-Verbund angeschlossen. In der Region Hannover hat bislang nur Uetze diese zentrale Servicenummer eingerichtet.
HAZ vom 06.09.2018, S. 17:
Frauenhäuser müssen jeden Tag Hilfesuchende abweisen
Plätze bleiben wegen Wohnungsknappheit länger besetzt / Nach Maßstäben des Europarats fehlen in der Region 66 Schutzplätze
Von Jutta Rinas
In der Region muss ein Konzept für eine Notaufnahme oberste Priorität haben.
Rund 400-mal im Jahr wird in der Region Hannover derzeit eine Frau bei einem Frauenhaus abgewiesen, wenn sie dort Schutz vor Gewalt sucht. Das ist das Ergebnis einer Anhörung im Gleichstellungsausschuss der Stadt Hannover zur Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention, die im Februar 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist. Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
Ein- bis zweimal täglich müssen in Stadt und Region Frauenhäuser Hilfesuchende mitsamt Kindern in Stadt und Umland abweisen, schätzte Ute Schimpf vom Frauenhaus Hannover. Der Hauptgrund: Wegen der Wohnungsknappheit blieben die Frauen viel länger als bislang geplant in den Frauenhäusern. „In der Region muss ein Konzept für eine Notaufnahme, die allen Hilfe suchenden Frauen sofort Schutz bietet, oberste Priorität haben“, sagte Schimpf.
In Hamburg hat eine solche zentrale Notaufnahme, die Anlaufstelle 24/7, nach Angaben von Geschäftsführerin Angelika Damm zu einer „enormen Entlastung der Frauenhäuser geführt“. Drei Tage blieben Hilfe suchende Frauen dort, ehe sie in Frauenhäuser oder andere Hilfseinrichtungen vermittelt würden, sagte Damm in der Anhörung. Die Hamburger Notaufnahme bietet Platz für 15 Frauen und Kinder in sieben Zimmern und kostet jährlich 640 000 Euro.
Die Frauenhäuser der Region wollen ein Konzept für eine Sofortaufnahme im Oktober vorstellen. „Der Bedarf ist da. Die Herausforderung wird sein, die Sofortaufnahme ausreichend auszustatten und in die bestehenden Strukturen einzubetten, so dass die Weiterleitung funktioniert“, sagt die gleichstellungspolitische Sprecherin der Grünen, Renee Steinhoff.
Die Istanbul-Konvention sieht pro 10 000 Einwohner einen Schutzplatz für eine alleinstehende Frau plus einer beliebigen Anzahl von Kindern vor. Legte man diesen Schlüssel zugrunde, müsste die Region künftig 117 sogenannte Familienplätze vorhalten, sagte Silke Dietrich vom Frauenhaus Hannover. Es gebe bislang 51 dieser Plätze, 66 Plätze fehlten also, sagte Dietrich. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn für weibliche Gewaltopfer 15 bis 20 Plätze geschaffen würden, sagte Dietrich.
Das Frauenhaus Hannover hat zwei externe Schutzwohnungen angemietet, um die Lage in dem Frauenhaus zu entspannen. Das Frauen- und Kinderschutzhaus schafft nach Angaben von Ute Vesper von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zum Januar 2019 in externen Wohnungen Plätze für zwei Frauen mitsamt Kindern, deren Situation sich so stabilisiert hat, dass sie selbstständig leben können. Die AWO eröffnet im Dezember 2018 ein Haus, in dem sieben Frauen mit Kindern leben können, die noch Hilfe im Alltag brauchen.
Im Vergleich zu anderen Kommunen Niedersachsens sei die Lage in Hannover noch gut, sagte Nora Stein von der Koordinierungsstelle Häusliche Gewalt des Landespräventionsrates. Landesweit habe nicht jede Kommune ein Frauenhaus. Insgesamt gibt es in Niedersachsen 41 Frauenhäuser.
Quelle: Steffen/dpa
HAZ vom 05.09.2018, S. 17:
Es stinkt den Menschen in der Innenstadt
Exkremente, Lärm, Drogen, Prostitution – im Bezirksrat Mitte fordern Anwohner ein härteres Durchgreifen der Stadt
Von Michael Zgoll
Ausgiebig haben Bürger am Montagabend im Volkshochschulgebäude Burgstraße ihrem Herzen Luft gemacht. Sie bekundeten in der zweiten Sondersitzung des Bezirksrats Mitte zum Thema Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum, was ihnen stinkt – oft im wahrsten Sinne des Wortes. Die vielen Männer etwa, die zwischen Steintor, Marstall und Altstadt hemmungslos unter freiem Himmel ihr Geschäft verrichten. Die Betreiber der Bars in Scholvin- und Reuterstraße, die den Anwohnern mit ihrer Beschallung per Straßenlautsprecher den Schlaf rauben. Die Dealer, die ihren Drogenhandel mit größter Unverfrorenheit auf offener Straße betreiben. Oder die Obdachlosen, die immer mehr Spielplätze und Grünflächen in der Oststadt okkupieren. Bezirksbürgermeisterin Cornelia Kupsch war gut beraten, den Anliegern in der Sitzung viel Zeit einzuräumen – auch wenn das Schwerpunktthema dieser Sondersitzung lautete: Handlungsansätze und Maßnahmen der Verwaltung.
Für diese Maßnahmen zeichnete bei der Sitzung – die insgesamt mehr als drei Stunden dauerte – Ordnungsdezernent Axel von der Ohe verantwortlich. Er warb mit Vehemenz um Vertrauen und versicherte, dass die Stadt nicht mehr wegsehe bei den mannigfaltigen Problemen in Hannover. Der neu geschaffene Ordnungsdienst werde bis Mitte Oktober 40 Köpfe zählen, die Zielzahl ist 50. Der Wunsch vieler Politiker und Bürger, diese Mitarbeiter an den Brennpunkten eher bis 24 Uhr statt nur bis 22 Uhr patrouillieren zu lassen, werde in der Verwaltung ernsthaft geprüft. Und die Arbeit des Ordnungsdienstes, sagte von der Ohe, trage bereits erste Früchte; so würden in den Eingangsbereichen des Hauptbahnhofs wesentlich weniger Obdachlose nächtigen als noch vor Jahresfrist.
Dass die Themen Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit die Bürger elementar beschäftigen, wisse die Stadt spätestens seit der Auswertung der jüngsten Bürgerbefragung, erklärte der Dezernent. In aller Kürze skizzierte er noch einmal die millionenschweren Programme der Stadt, die Hannover attraktiver machen sollen. Dazu zählen im Bereich Sauberkeit die Ausweitung des Kehrmaschineneinsatzes bis 21 Uhr (jährliche Kosten: 270 000 Euro), der Einsatz von City-Handreinigern an Nachmittagen (160 000 Euro) oder die Aufstockung des Abfallfahnder-Teams um fünfeinhalb Stellen (450 000 Euro). „Ich erbitte einen Vertrauensvorschuss für unser Programm, wir meinen es ernst“, sagte der 41-Jährige. Doch die oft von Bitterkeit und Wut geprägten Redebeiträge der gut 100 Besucher dürften ihn noch einmal daran erinnert haben, wie viel Porzellan es in Hannover zu kitten gibt – insbesondere im Stadtbezirk Mitte.
Ein Überblick der wichtigsten Themen in der Sitzung des Bezirksrats:
Obdachlosen- und Trinkerszene: Anwohner berichteten, dass die Tätigkeit der Ordnungsdienstmitarbeiter bereits Früchte trage – allerdings mit noch unbefriedigendem Ergebnis. So verlagere sich die Szene von Raschplatz und Andreas-Hermes-Platz Richtung Weißekreuzplatz und in die umliegenden Wohnstraßen. Seien die städtischen Mitarbeiter im Anmarsch, gebe es kurzfristig Ruhe, danach gehe das Krakeelen oft von vorne los. Dem Wunsch von Anliegern, die Ordnungskräfte „undercover“ patrouillieren zu lassen, erteilte von der Ohe aber eine Absage. „Es ist Teil des Konzepts, dass diese Mitarbeiter für die Bürger erkennbar und ansprechbar sind“, sagte der Dezernent. Auch die Bettler- und Hausiererszene, ergänzte Martin Prenzler von der City-Gemeinschaft, versetze der Ordnungsdienst bereits „in Unruhe“.
Menschliche Hinterlassenschaften: Früher seien Männer, die im Freien urinierten, noch verschämt aufgetreten, sagte ein Besucher der Bezirksratssitzung. Heute hätten viele Menschen, insbesondere unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, überhaupt kein Schamgefühl mehr. Eine Geschäftsfrau aus der Schuhstraße (Altstadt) erzählte, dass sie ständig Männer beobachte – oft auch gut gekleidete –, die an die gegenüberliegenden Garagen pinkeln. Ein Café-Betreiber aus der Knochenhauerstraße berichtete, dass Menschen in den Grünflächen rund um Kreuzkirche und Goldener Winkel ihre Notdurft verrichten, auch im Steintorviertel und in der Oststadt empfinden Anwohner das „Wildpinkeln“ von Wildfremden als großes Problem. Spreche man die Übeltäter an, hieß es, drohten diese häufig mit Schlägen. Grünen-Bezirksratsherr Christoph Baathe regte an, das Bußgeld für Urinieren im Straßenraum von 35 auf 500 Euro zu erhöhen, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. „Vergehen und Buße müssen aber in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen“, bremste Axel von der Ohe.
Lärm: Etliche Anwohner im Steintorviertel, darunter eine Studentin, eine Angestellte im medizinischen Dienst und ein Akustiker, beklagten die von einzelnen Etablissements ausgehende Musik, die insbesondere an Wochenenden bis in die frühen Morgenstunden durch die schmalen Straßen dröhne und ihnen den Schlaf raube. Private Messungen hätten Schallspitzen von bis zu 93 Dezibel ergeben, doppelt so viel wie erlaubt. Die Polizei gehe den diversen Beschwerden und Anzeigen durchaus nach, doch seien die Erfolge meist nur von kurzer Dauer. Von der Ohe wies darauf hin, dass die Stadt unliebsame Bars nicht einfach schließen könne und es in der City auch keine klassische Sperrstunde gebe. Für seine Replik, mehrfache Lärmmessungen der für Schallemissionen zuständigen Region Hannover hätten „keine Auffälligkeiten“ ergeben, erntete der Dezernent allerdings höhnisches Gelächter. Bürgermeisterin Kupsch versprach, einen Vertreter der Region einzuladen, sollte das Thema Lärm noch einmal im Bezirksrat diskutiert werden.
Drogenhandel: Insbesondere im Steintorviertel, so taten Anlieger kund, könne man Tag und Nacht Dealer beim Handeln mit Rauschgift beobachten – man müsse nur aus dem Fenster einer Wohnung schauen. Vielen Anwohnern sind nach eigenem Bekunden die Drogenverstecke der Händler bestens bekannt; auch Prostitution auf offener Straße könne man im Quartier verstärkt beobachten. Mehrere Besucher der Bezirksratssitzung forderten die Einrichtung einer – zumindest kleinen – Polizeiwache am Marstall.„Es gibt tatsächlich massive Beschwerden im Steintorviertel“, bestätigte Polizeidirektorin Gwendolin von der Osten, Leiterin der Polizeiinspektion Mitte. Und sie versprach: „Wir werden da genauer hingucken.“
Auf die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung der Anwohner und der Kriminalstatistik – die bei vielen Delikten seit 2015 sinkende Zahlen ausweist – machte Dezernent von der Ohe aufmerksam: „Wir haben Schwierigkeiten in Mitte, das ist richtig, aber es wird dem Stadtbezirk nicht gerecht, wenn man sagt, die Situation sei eskaliert.“ Allerdings bekundeten in der Volkshochschule etliche Zuhörer, bei vielen Beobachtungen gar keine Anzeige mehr zu erstatten, weil dies eh zu nichts führe.
Quelle: Kutter
HAZ vom 23.08.2018, S. 16:
Wohnungslose Frauen brauchen mehr Hilfe
Region will Angebote überprüfen / Große Koalition lehnt Schaffung von mehr Wohnraum ab
Von Bärbel Hilbig
Die Region will ihre Hilfen für wohnungslose Frauen verstärken. Bisher nutzen die Betroffenen herkömmliche Hilfsangebote wesentlich seltener als männliche Wohnungslose. „Frauen wollen nach außen nicht als wohnungslos erkennbar sein, um sich zu schützen“, erklärt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Damit verzichten sie jedoch häufig auf professionelle Hilfe und verstetigen ihre prekäre Situation. Die Region hatte die Expertin kürzlich in den Sozialausschuss eingeladen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft geht für das Jahr 2016 von bundesweit gut 100 000 wohnungslosen Frauen aus, das sind rund 27 Prozent der wohnungslosen Erwachsenen. „Frauen, die draußen auf der Straße leben, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs“, betont Rosenke. Unter den Begriff Wohnungslose fallen nach Definition des Vereins Menschen, die in Notunterkünften leben oder in anderen Gemeinschaftseinrichtungen wie Heimen, Anstalten, Frauenhäusern. Ohne eigenen Mietvertrag schlüpfen sie bei Familie oder Bekannten unter oder wohnen in billigen Pensionen. „Frauen gehen dabei auch Zweckwohngemeinschaften ein, Beziehungen, in denen sie in eine ungeschützte Lage geraten“, berichtetdie Fachfrau.
Dabei ist Gewalt in der Familie oder Partnerschaft bei rund 15 Prozent der Betroffenen Auslöser für den Verlust der Wohnung. „Gewalterfahrungen haben fast alle im Laufe ihres Lebens gemacht“, berichtet Rosenke. Weitere Gründe sind schwierige Familienverhältnisse, frühe Schwangerschaft oder Sucht. Rosenke plädiert dafür, wohnungslosen Frauen eigene, vor allem auch niedrigschwellige Beratungsangebote zu machen. „Wartezimmer, in denen zu 80 Prozent Männer sitzen, sind ihnen nicht zumutbar.“
Die Region hat selbst gute Erfahrungen mit dem Projekt Re-Start gemacht, das von 2016 bis Ende 2018 läuft. Es richtet sich an Menschen, die akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Sie können per Handy kostenlos Kontakt zu Sozialarbeitern aufnehmen, die Treffen finden anonym an der Bushaltestelle oder im Caféstatt. „Es ist auffällig, dass sich sehr viele junge Frauen an die Mitarbeiter wenden“, berichtet Sabine Sell vom Fachbereich Soziales.
Ein Antrag von FDP, Grünen, Linken und der Gruppe Region, weitere Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, scheiterte an den Gegenstimmen von SPD und CDU. Sozialdezernentin Andrea Hanke will Ende des Jahres ein Konzept vorlegen. „Wir prüfen, was die Frauen wünschen“, erläutert Fachbereichsleiter Thomas Heidorn.
Quelle: Franson
HAZ vom 17.08.2018, S. 17:
Hilfe für Kranke ohne Obdach
Ministerin eröffnet Wohnung in Misburg
Von Jutta Rinas
Sie haben eine Beinamputation infolge von Erfrierungen hinter sich, eine Schilddrüsenoperation, Krebs. Manche haben auch einfach nur eine tiefe Wunde, die infolge des harten Lebens auf der Straße einfach nicht heilen will. Seit mittlerweile 20 Jahren bietet das Diakonische Werk Hannover solchen kranken Wohnungslosen in der Krankenwohnung Die Kurve in Döhren eine feste Bleibe.
Bei ihrer Eröffnung war die Kurve (kurz für: Dienstleistung bei Krankheit und Regeneration und medizinische Versorgung Wohnungsloser) die einzige Einrichtung dieser Art in Niedersachsen. Auch heute sei sie niedersachsen- und bundesweit noch relativ einzigartig, sagte Sozialministerin Carola Reimann am Donnerstag anlässlich des Jubiläums. Gleichzeitig hob sie in Misburg eine zweite Krankenwohnung aus der Taufe. Beide Einrichtungen böten Wohnungslosen die Möglichkeit, medizinisch betreut in Ruhe zu genesen, sagte Reimann.
Die Region Hannover finanziert das Angebot. 2017 habe man die KuRVe in Döhren mit 142 000 Euro unterstützt, sagte Andrea Hanke, Sozialdezernentin der Region Hannover. Der fehlende bezahlbare Wohnraum in der Region zwinge immer mehr Menschen in die Wohnungslosigkeit. Dies spiegele sich auch in der starken Nachfrage nach Plätzen in der Kurve wieder. Deshalb habe man eine zweite Anlaufstelle dieser Art eröffnet.
300 Wohnungslosen half das Angebot seit der Gründung 1998. Bis zu einem Jahr blieben die Kranken inzwischen in der Kurve. Der Anspruch in den 200 Quadratmeter großen Gemeinschaftswohnungen mit jeweils sechs Plätzen sei es, sie aus der Obdachlosigkeit in eine feste Wohnung zu vermitteln, sagt Genz. Bei etwa der Hälfte habe man dies tatsächlich geschafft. Eine Krankenschwester und ein Sozialarbeiter betreuen die Kranken tagsüber an fünf Tagen in der Woche.
HAZ vom 04.08.2018, S. 20:
Immer mehr Obdachlose aus Südosteuropa
Laut Stadtverwaltung stammt mittlerweile mehr als jeder Dritte der rund 1200 Menschen in den Notunterkünften aus Rumänien
Von Jutta Rinas
Die Gruppe der südosteuropäischen Armutszuwanderer unter den Obdachlosen in Hannover ist deutlich höher als bislang öffentlich bekannt. Immerhin 36 Prozent der rund 1200 Obdachlosen in den Notunterkünften der Stadt stammen mittlerweile aus Rumänien. Das geht aus einer Anfrage der HAZ an die Stadtverwaltung hervor. Die Armutszuwanderer aus dem Balkanland stellen damit mit großem Abstand die zweitgrößte Gruppe unter den Obdachlosen in Hannover.
Quelle: Behrens
Die größte Gruppe bilden immer noch, aber nur noch mit knappem Abstand, deutsche Obdachlose mit 40 Prozent. 3 Prozent der hannoverschen Obdachlosen sind Türken, 1,5 Prozent Ghanaer. Die restlichen 20 Prozent verteilen sich der Stadtverwaltung zufolge auf 52 weitere Nationalitäten wie zum Beispiel Griechenland, Polen, Serbien oder den Kosovo.
Beim Kampf gegen die Obdachlosigkeit in Hannover sei es eine der großen Herausforderungen, die Situation der Armutszuwanderer aus Südosteuropa in den Griff zu bekommen, sagte Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes auf Anfrage. Es gebe mittlerweile einige Hilfsprojekte, die sich speziell an Obdachlose aus Südosteuropa wendeten, die Landeshauptstadt und die Wohlfahrtsverbände seien gut aufgestellt, sagte Müller-Brandes. Ein Beispiel sei das von Bund und EU geförderte Europäische Hilfsprojekt für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP). Mit ihm versuche man, Kontakt zu den Armutsflüchtlingen zu bekommen, sie zu integrieren und bei Kindern für schulische Bildung zu sorgen. Man müsse aber auch konstatieren, dass ein Zugang zu dieser Personengruppe besonders schwierig sei. Dafür sorgten unter anderem große kulturelle Unterschiede.
Dazu komme die Tatsache, dass die Zugewanderten zu Hause oft noch viel schlimmere Zustände als hier gewohnt seien. „Menschen, die hier unter ärmlichsten Bedingungen leben, geht es oft immer noch besser als in ihrem Heimatland“, so Müller-Brandes.
Rumänen und Bulgaren haben erst seit dem 1. Januar 2014 die vollen Freizügigkeitsrechte in der Europäischen Union und können uneingeschränkt auf dem deutschen Arbeitsmarkt tätig werden. Seitdem wächst ihre Zahl in Hannover stetig.
HAZ vom 23.07.2018 S. 11:
Suchtkranken droht die Obdachlosigkeit
Betroffene und Angehörige gedenken an der Marktkirche der Drogentoten des vergangenen Jahres
Von Tobias Morchner
Zahlreiche Angehörige und Betroffene haben am Sonnabend an der Marktkirche der verstorbenen Drogenabhängigen des Jahres 2017 aus der Stadt und dem Umland gedacht. Zu der Gedenkveranstaltung, die einmal pro Jahr an immer wechselnden Orten der Stadt organisiert wird, hatte ein Zusammenschluss mehrerer Vereine und Initiativen eingeladen, die sich um Suchtkranke kümmern. Im vergangenen Jahr waren zehn Menschen in der Region an den Folgen ihrer Drogensucht gestorben. In diesem Jahr sind es bereits sechs.
Bürgermeister Thomas Hermann (SPD) wies in seiner Begrüßung auf die vielen positiven Entwicklungen hin, die von der Verwaltung angeschoben worden waren. In Kürze werden in der Innenstadt zwei Automaten aufgehängt, an denen Abhängige zum Selbstkostenpreis saubere Spritzen kaufen können. Der im November eröffnete Drogenkonsumraum, das „Stellwerk“, werde gut angenommen, sagte Herrmann. „Im Schnitt zählen wir dort 150 Besucher pro Tag“, sagte der Bürgermeister.
36-mal sei es bislang im „Stellwerk“ zu einem Notfall gekommen, alle seien durch die rechtzeitige Reaktion der Helfer im Konsumraum glimpflich ausgegangen. Die Stadt gibt derzeit jährlich eine Million Euro für die Beratung und Betreuung von Suchtkranken aus.
Eine große Herausforderung für die Stadt sei es nach wie vor, bezahlbaren Wohnraum und Übernachtungsmöglichkeiten für Drogenabhängige zu schaffen. „Wer suchtkrank ist, hat auf dem Markt kaum eine Chance, immer mehr Suchtkranke leben auf der Straße“, sagte Herrmann. Das sei vor allem mit Blick auf den Winter besorgniserregend.
Auf die Folgen der Obdachlosigkeit ging auch Ilona Rowek, die Sprecherin des Vereins „Junkies, Ehemalige, Substituierte“ (JES) ein: „Niedrigschwellige Angebote werden nicht wahrgenommen, sie sind für Beratung und Prävention kaum erreichbar, sozialer und gesundheitlicher Absturz, auch mit Todesfolge, sind programmiert.“ Auch der Student Marvin Eckert war am Sonnabend an die Marktkirche gekommen. Zum Gedenken an eine Drogentote schrieb er, wie viele andere an diesem Tag, mit leuchtender Farbe einen Vornamen auf ein Stück Holz und stellte es anschließend zu den anderen, die bereits auf dem Vorplatz der Kirche aufgebaut waren.
„Ich habe Claudia nicht wirklich gekannt. Ich war aber zufällig Ersthelfer, als sie sich wegen ihrer Suchterkrankung vor meinen Augen aus einem Fenster gestürzt hat“, sagt der junge Mann.
Viele Jahre hat sich Eckert in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main um Drogenabhängige gekümmert. Nach seinem Umzug nach Niedersachsen will er die Kampagne hier weiterführen. „Bei uns im Momo-Projekt, das sich hauptsächlich an Jugendliche richtet, geht es darum, offen und ehrlich über das Thema zu reden. Wir wollen weder etwas beschönigen noch etwas unter den Tisch fallen lassen“, sagt Eckert.
Der Gedenktag fand in diesem Jahr in rund 70 deutschen Städten statt. Schirmherr war Kevin Kühnert, der Bundesvorsitzende der Jusos in der SPD.
Quelle: Wallmüller
HAZ vom 19.07.2018, S. 16:
Attackierte Obdachloser 20 Frauen?
Staatsanwaltschaft überprüft alle Verdachtsfälle
(pah). Ein 39-jähriger Obdachloser steht im Verdacht, seit Ende Juni mindestens 20 Frauen im Stadtgebiet angegriffen, belästigt oder geschubst zu haben. Zunächst war die Polizei von lediglich vier Vorfällen ausgegangen. Nach einem Zeugenaufruf war die Anzahl der Verdachtsfälle schnell angestiegen. „Wir müssen prüfen, ob der Mann tatsächlich für jeden dieser Angriffe verantwortlich gemacht werden kann“, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Klinge.
Der bei der Polizei bekannte Mann war in der vergangenen Woche nach Auswertungen von Aufzeichnungen von Videokameras an der Hamburger Allee vorläufig festgenommen worden. Wegen fehlender Haftgründe wurde er damals allerdings nach dem Abschluss seiner Befragung wieder auf freien Fuß gesetzt.
HAZ vom 19.07.2018, S. 8:
Fast jedem Sechsten droht Armut
1,25 Millionen Menschen betroffen
Hannover. In Niedersachsen ist fast jeder sechste Einwohner von Armut bedroht. Die Gefährdung liege bei einer Quote von 16 Prozent, heißt es in einem Sozialbericht des Landesamts für Statistik (LSN), der am Mittwoch vorgestellt wurde. Dabei handelt es sich um den höchsten bisher gemessenen Wert. Etwa 1,25 Millionen Menschen galten demnach als armutsgefährdet. Die Zahlen stammen allerdings aus dem Jahr 2016 – aktuellere Statistiken hat die Behörde nicht.
„Die Schwelle zur Armutsgefährdung lag 2016 in Niedersachsen für einen Einpersonenhaushalt bei 953 Euro netto im Monat“, erläuterte Klaus-Dieter Gleitze, Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz (LAK). Das entspreche 60 Prozent des mittleren monatlichen Einkommens. Nach den Angaben des Statistikamtes sind zwar immer mehr Menschen in Arbeit und die Arbeitslosenzahlen gehen seit Jahren zurück, jedoch nicht alle können davon gleichermaßen profitieren.
Als einen Grund dafür nennen die Autoren des Berichts sogenannte atypische Arbeit. Dabei arbeiten Beschäftigte in Teilzeit, geringfügig, befristet oder in einem Zeitarbeitsverhältnis. Laut der Statistikbehörde stand 2016 mit mehr als 22 Prozent ein beachtlicher Teil der Beschäftigten in so einem Arbeitsverhältnis. Zur Vermeidung von Altersarmut müssten der Niedriglohnsektor, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Langzeitarbeitslosigkeit eingedämmt werden, forderte Thomas Uhlen von der Caritas in Niedersachsen als Sprecher der LAK.
HAZ vom 27.06.2018, S. 21:
Ganz unten – und noch ein Stück tiefer
Ein Paar soll von einer Notunterkunft in einen Container umziehen. Das lehnen die beiden ab – und sind jetzt obdachlos.
Am 1. Juni 2018 setzte ein städtischer Mitarbeiter im Rathaus ein amtliches Schreiben auf, Überschrift: „Widerruf der Zuweisung“. Ein paar Tage später landete der Umschlag im Postkasten eines etwas heruntergekommenen Wohnblocks in Wülfel. Das junge Ehepaar Doreen und Andreas Müller (die Namen sind geändert) war überrascht, was es da lesen musste. Innerhalb von kaum vier Wochen sollten sie ausziehen und ihre Möbel mitnehmen, bei Widerstand und Terminüberschreitung drohe eine Zwangsräumung auf eigene Kosten. Als Alternative für die Zweizimmer-Wohnung bot das Rathaus an: zwei Betten in einem Containermodul in Ahlem, Bad und Küche wären mit zwei weiteren Bewohnern zu teilen. Die Anlage war als Flüchtlingsunterkunft gedacht, inzwischen leben dort 54 obdachlose Menschen.
„Wir gehen nicht in Container“
Die Nachricht aus dem Rathaus kam aus heiterem Himmel. Vielleicht hat sich das Paar zu lange eingerichtet in der günstigen und schlichten Notunterkunft. Vielleicht hätte die Stadt eine Rückkehr gestatten sollen, bis das Paar auf dem knappen Wohnungsmarkt bezahlbare vier Wände gefunden hätte, statt eine rigorose Frist zu setzen. Doch jetzt erleben Doreen und Andreas Müller, dass es leicht ist, noch weiter nach unten zu fallen, wenn man bereits unten ist.
Das Haus in Wülfel ist eine städtische Notunterkunft, die einfachen Wohnungen sind als akute Hilfe für Obdachlose gedacht, nicht als dauerhafte Adressen. Doch Andreas Müller wohnt hier seit drei Jahren im Erdgeschoss und lebte schon zuvor im selben Haus bei seiner Mutter. Er fühlt sich nicht als Obdachloser. „Und wir gehen nicht in Container“, sagt Müller in ruhigen Worten. Er hat da feste Vorstellungen: Container seien etwas für Flüchtlinge, nicht für Deutsche, die Steuern zahlten. Der 29-Jährige ist derzeit arbeitslos und lebte zuvor von Gelegenheitsjobs. Nun will er „die ganze Sache und den Stress mit der Wohnung“ hinter sich bringen, erst dann, sagt Müller, könne er sich wieder um einen neuen Job kümmern, beides zusammen gehe nicht. Zuletzt war er als Lagerist bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt.
Quelle: Kutter
An Verhältnisse gewöhnt
Das Geld verdient Doreen Müller. Sie arbeitet als Helferin in der Altenpflege, Schichtdienst inklusive. Nebenbei kümmert sie sich um die Angelegenheit mit der Stadt. Sie trägt die Papiere stets in einer Tasche mit sich, damit sie in der Wohnung nicht verloren gehen. Sie hat einen Anwalt gefragt, ob man sich wehren könne gegen die Stadt, aber der machte ihr wenig Hoffnung auf Erfolg. Seit der Kündigung sucht sie nach einer neuen Wohnung, die sie von ihrem Lohn bezahlen kann. „550 Euro Warmmiete, das ist die Obergrenze.“
Der Brief von der Stadt war auch für Doreen Müller ein Schock. Erschöpft vom Spätdienst in einen Container zu kommen, das will sie sich ersparen. Das Paar hatte sich an sehr bescheidene Verhältnisse in der kleinen Wohnung in Wülfel gewöhnt, mit zwei Hunden und Meerschweinchen, deren Käfige im ohnehin engen Wohnzimmer standen. Es gab keine Heizung, im Winter spendete nur ein Ofen etwas Wärme, und wenn es zu kalt wurde, half eine elektrische Heizung nach. Die Wohnung war günstig, „177 Euro im Monat“, erzählt Andreas Müller. Seine Erfahrung ist: „Miete und Strom bezahlen, das ist das Wichtigste.“ Das Leben im Containermodul würde teurer werden. Pro Tag und Bett hat das Rathaus einen Satz von 3,55 Euro festgesetzt, macht 213 Euro im Monat. Haustiere sind nicht erlaubt.
Die Stadt darf Obdachlose jederzeit umquartieren und ihnen andere Unterkünfte zuweisen. Es gibt keine Mietverträge mit gesetzlichen Kündigungsfristen, und es gibt keine Wohnstandards, die die Stadt garantieren muss. „Grundsätzlich sind alle städtischen Unterkünfte für die Unterbringung von Obdachlosen geeignet und angemessen“, sagt eine Sprecherin. Eine Wohnung mit Wänden aus Stein und eigenem Bad oder ein provisorischer Container mit Gemeinschaftsklo – die städtische Satzung macht da keinen Unterschied. In der Notunterkunft in Wülfel sind Abwasserleitungen beschädigt. Im bewohnten Zustand sei eine genaue Untersuchung ebenso wenig möglich wie eine Sanierung. Wolle man weiteren Schaden am Gebäude verhindern, müsse sofort mit den Arbeiten begonnen werden. Deshalb sei die „Umsetzung von Bewohnern in eine andere Unterkunft“ nötig.
Es ziehen wieder Obdachlose ein
Die Müllers haben alle überflüssigen Möbel beim Sperrmüll angemeldet und vors Haus gestellt. Am Dienstag um 9.30 Uhr übergaben sie dem Hausverwalter alle Schlüssel. Das Paar ist nun formell ohne festen Wohnsitz und ohne Postadresse. Eine neue Wohnung gibt es nicht, die ersten Tage und Nächte verbrachten sie bei Verwandten, Hunde und Meerschweinchen immer dabei. Die renovierte Wohnung wird wieder vergeben. An Flüchtlinge, behauptet Andreas Müller, das habe er von der Stadt gehört. Im Rathaus heißt es: nein, an Obdachlose.
HAZ vom 21.06.2018, S. 30:
Ausgekehrt
Das Berliner Magazin „Strassenfeger“ wird nach 24 Jahren eingestellt –
Auch andere Obdachlosenmagazine bundesweit kämpfen ums Überleben
Von Christian Neffe
Berlin. Regina L. steht am Eingang des Berliner S-Bahnhofs Friedrichstraße und ist sauer. Nicht auf den Anzugträger, der mit Kaffeebecher und Koffer vor ihr steht. Nein, ihr Unmut richtet sich gegen die Herausgeber der Zeitung „Strassenfeger“. Zwei Exemplare der Juni-Ausgabe hält sie in der Hand, ihr Gegenüber tauscht 3 Euro gegen eine davon. Die übrige Zeitung wird wohl die letzte sein, die L. verkaufen wird. Denn der „Strassenfeger“ – seit seiner ersten Ausgabe vor 24 Jahren zur Institution geworden – wird eingestellt.
Quelle: DPA
Der Trägerverein Strassenfeger e.V. beschloss die Einstellung bei einer außerordentlichen Mitgliederversammlung mit 30 Jastimmen und nur 16 Gegenstimmen. In der Pressemitteilung wird dieser Schritt mit der „wirtschaftlichen und personellen Situation“ begründet. Dort heißt es: „Verkäufer können nicht vor Übergriffen geschützt werden, und die Vertriebsstruktur ist desolat. Beschwerden über Verkäufer, die betteln, statt die Zeitung zu vertreiben, häufen sich.“ Nun will sich der Verein auf seinen neuen Leitsatz „Ein Dach über dem Kopf“ konzentrieren: Es sollen eine neue Übernachtungsstelle sowie eine Beratungsstelle für obdachlose Familien entstehen.
„Das Aus des ,Strassenfegers’ ist Stadtgespräch“, sagt Regina L. in urberlinerischem Dialekt. Vier Jahre lang war sie dem Magazin treu. An der Ausgabestelle bezahlte sie pro Exemplar 60 Cent, für 1,50 Euro verkaufte sie die Zeitungen dann auf der Straße. Täglich habe sie damit 10 bis 15 Euro verdient – so wie rund 300 andere Bedürftige. Zuletzt erschien die Zeitung alle drei Wochen mit einer Auflage von etwa 12 000 Stück. Vor einigen Jahren war die Auflage noch fast doppelt so hoch.
Der sinkende Absatz macht sich auch andernorts bemerkbar. Beispielsweise beim Hamburger Blatt „Hinz&Kuntz“. Dort ist die Auflage innerhalb von zwei Jahren von 70 000 auf 60 000 geschrumpft. Die Ursache sieht Redaktionsleiterin Birgit Müller nicht nur im generell schwindenden Interesse an gedruckten Zeitungen, sondern auch an der immer größer und sichtbarer werdenden Armut auf den Straßen: „Das belastet die Käufer. Der Kauf eines Magazins geschieht nicht mehr mit der gleichen Freude wie noch vor einigen Jahren.“
Das Leipziger Straßenmagazin „Kippe“ stand einmal vor einer ganz ähnlichen Situation wie der „Strassenfeger“: 2001 – sechs Jahre nach Gründung – übernahm das Suchtzentrum Leipzig die Trägerschaft vom Verein für Obdachlosenhilfe, nachdem dieser pleitegegangen war. „Das Suchtzentrum wollte uns und die Verkäufer nicht hängen lassen“, sagt Projektleiter Björn Wilde. Zwar ist die Auflage der „Kippe“ mit 8000 Stück noch geringer als die des „Strassenfegers“, den großen Unterschied stelle jedoch die Organisationsstruktur dar: Als gemeinnützige GmbHs sind „Kippe“ und „Hinz&Kuntz“ wirtschaftlich flexibler und stabiler als gemeinnützige Vereine wie der Strassenfeger e.V. „Auf diese Weise kann man viele Probleme abfangen“, sagt Wilde. Die Hamburger Zeitung kommt gar ohne öffentliche Zuschüsse aus, finanziert sich stattdessen zur Hälfte aus Verkauf und Anzeigen, zur anderen Hälfte aus Spenden.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es aber doch für die Verkäufer des „Strassenfegers“: Der Verein strebe langfristig einen Weiterbetrieb des Magazins an und sei bereits mit dem Münchener Straßenmagazin „BISS“ im Gespräch, um eine Neuauflage zu planen. Regina L. ist jedoch pessimistisch: „Wer will denn in so ein Projekt Geld reinstecken?“ Sie wechsle deshalb jetzt zur „Motz“, der zweiten Zeitung auf den Straßen Berlins. „Mir bleibt ja nichts anderes übrig.“
HAZ vom 19.06.2018, S. 18:
Neue Notschlafstelle für Junkies in der City?
Ehemaliger Fixpunkt soll umgebaut werden / Gebäude auch als Obdachlosenunterkunft im Gespräch
Von Jutta Rinas
Hannover. Bekommt Hannover eine Notschlafstelle für Drogenabhängige, die nachts keine Unterkunft finden? Wenn es nach dem Willen des Suchtbeauftragten der Stadt, Frank Woike, geht, soll es diese schon im Januar 2019 geben – und zwar in der Augustenstraße 11, im Gebäude des ehemaligen Fixpunkt.
Quelle: Wilde
Woike stellte seine Pläne für eine neue Nutzung der ehemaligen Anlaufstelle für Drogenabhängige am Montag im Sozialausschuss vor. Entschärft werden könnten ihm zufolge damit die Probleme mit Drogenabhängigen in den Parkhäusern in der City. Wie berichtet, musste die Polizei zwischenzeitlich regelmäßig in fünf Parkhäuser in der Stadt ausrücken, weil dort obdachlose Junkies in den Nächten Unterschlupf suchten. Das Parkhaus in der Lützowstraße im Steintorviertel wurde wegen erheblicher Sicherheitsprobleme Mitte 2017 sogar für kurze Zeit geschlossen. Die Rede war damals von in den Treppenhäusern herumliegenden Frauen und Männern sowie von einer großen Anzahl weggeworfener gebrauchter Spritzen. Es roch nach Urin, die Wände waren mit Fäkalien beschmiert.
Auch rund um das Stellwerk, die neue hannoversche Drogenhilfestation, hielten sich derzeit nach den Öffnungszeiten Junkies auf, die dringend einen Schlafplatz bräuchten, sagte Woike. Aus fachlicher Sicht sei es deshalb sinnvoll, das nahe gelegene Gebäude in der Augustenstraße 11 zu einer Notschlafstelle für obdachlose Süchtige zu machen. Allerdings: Auch im Baudezernat hat man ein Auge auf das Gebäude geworfen, das zuvor saniert werden muss. Hier sieht man es als Notunterkunft für Obdachlose vor. Eine entsprechende Drucksache wird derzeit in den Gremien beraten. Drogenabhängige und Obdachlose zu mischen sei aber keine gute Idee, sagte Woike.
Der Suchtbeauftragte setzte sich überdies für eine Verschiebung und Ausweitungen der Öffnungszeiten des Stellwerks ein. Bislang hat die Drogenhilfestation nur werktags zwischen 10 und 18 Uhr auf. Eine probeweise Ausweitung habe gezeigt, dass Öffnungszeiten zwischen 11 und 21 Uhr besser seien. Die Verwaltung präsentierte dazu im Ausschuss Finanzierungsmodelle. Die teuerste Lösung (werktags zehn Stunden und am Wochenende sechs Stunden) würde die Stadt zusätzlich 290 000 Euro kosten.
HAZ vom 12.06.2018, S. 24:
Neue Standards für Obdachlose
Unterkünfte erhalten abschließbare Spinde
(jr). Eine feste soziale Betreuung durch Fachpersonal, ein Mindestmaß an menschenwürdiger Privatsphäre und ein für Obdachlose qualifizierter Wachdienst – mit diesen Änderungen bei den Qualitätsstandards ist das neue Konzept der Stadtverwaltung zur Unterbringung von Obdachlosen am Mittwoch beschlossen worden. Beteiligt waren in einer gemeinsamen Sitzung gleich vier Ausschüsse: Bau-, Sozial- und Gleichstellungsausschuss sowie Internationaler Ausschuss. Nicht durchsetzen konnte sich die CDU mit einem Antrag, das derzeitige Flüchtlingswohnheim in der Lammstraße ausschließlich mit Frauen zu belegen. Die Verwaltung will dort obdachlose Männer unterbringen. Man habe bereits eine reine Unterkunft für 50 obdachlose Frauen sowie zehn Sleep-in-Plätze an der Unterkunft in der Langensalzastraße vorgesehen, argumentiert die Verwaltung. Diese sei deutlich besser geeignet für Frauen, weil es dort mehr Gemeinschaftsküchen und mehr Gemeinschaftsräume für die Betreuung von Kindern gebe.
Streit gab es darüber, was ein Mindestmaß an Privatsphäre in einer Unterbringung ist. Dirk Machentanz von der Gruppe Die Linke/Piraten kritisierte, dass es in den bestehenden Obdachlosenunterkünften immer noch Vierbettzimmer gebe. Beschlossen wurde auch, dass künftig für jeden Obdachlosen in einer Gemeinschaftsunterkunft ein abschließbarer Spind zur Verfügung gestellt wird.
HAZ vom 16.05.2018, S. 15:
Stadt will Alkoholverbote
Landesregierung erwägt, Kommunen nach Feiertagsexzessen hartes Durchgreifen gegen öffentliche Gelage zu ermöglichen / Hannovers Ordnungsdezernent begrüßt den Vorstoß
Von Marco Seng und Conrad von Meding
Dürfen Kommunen in Niedersachsen künftig Alkoholverbote für öffentliche Plätze aussprechen? Die Stadt Hannover kann sich das gut vorstellen. „Wir haben Orte in dieser Stadt, an denen teils exzessiv Alkohol konsumiert wird und wo Beeinträchtigungen für Dritte entstehen“, sagte Ordnungsdezernent Axel von der Ohe der HAZ. An solchen Orten könnten Alkoholverbote sinnvoll sein. Derzeit aber seien Regelungen rechtlich sehr schwierig. „Wir würden eine gesetzliche Änderung begrüßen, die den Kommunen eine Handhabe für ein Alkoholverbot auf öffentlichen Flächen gibt – und sei es temporär“, sagte von der Ohe.
Der Ordnungsdezernent wollte keine bestimmten Plätze in Hannover nennen. Als von Trinkexzessen besonders betroffen gelten der Raschplatz in der Innenstadt, der Weißekreuzplatz in der Oststadt, der Schünemann-Platz in Ricklingen sowie der Küchengartenplatz in Linden.
Ein solches Alkoholverbot hatte der Niedersächsische Städtetag nach verschiedenen Vorfällen am Himmelfahrtstag gefordert. In mehreren Städten in Niedersachsen hatten Betrunkene randaliert. In Ganderkesee im Landkreis Oldenburg wurden dabei auch Polizisten angegriffen. „Gemeinsam mit dem Land wollen wir prüfen, ob Trinkexzessen im öffentlichen Raum mit gesetzlichen Änderungen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begegnet werden kann“, erklärte der Präsident des Städtetages, Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD). Bei der Bekämpfung der Alltagskriminalität dürften die Polizei vor Ort und die Kommunen nicht alleingelassen werden. „Alkohol-Terror beeinträchtigt die Sicherheitslage in unseren Städten und Gemeinden“, so Mädge.
Quelle: Schaarschmidt/Dröse
Die rot-schwarze Landesregierung signalisierte am Dienstag Unterstützung. Innenminister Boris Pistorius (SPD) will die Wünsche der Kommunen bei der anstehenden Beratung des Polizeigesetzes noch einmal prüfen. Dabei könnten der Bedarf ermittelt sowie die Vor- und Nachteile einer solchen Regelung erörtert werden, sagte Pistorius. „Wenn es so schlimm wird wie in Ganderkesee, dann ist sowieso die Polizei gefordert.“
„Wir können den Wunsch der Kommunen nachvollziehen, dass sie exzessive Trinkgelage auf ihren Plätzen verhindern wollen“, erklärte der frühere Innenminister Uwe Schünemann (CDU). Nicht zuletzt der Himmelfahrtstag in der vergangenen Woche habe gezeigt, „dass die öffentliche Ordnung nicht immer und überall sichergestellt werden konnte“. Die Kommunen könnten bei der nun anstehenden Anhörung zum geplanten Polizeigesetz ihren Vorschlag einbringen und weiter konkretisieren. „Wir werden das dann gründlich prüfen.“
Pistorius und Schünemann betonten beide, dass sie keine amerikanischen Verhältnisse in Niedersachsen wollen, bei denen jeglicher Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit verboten ist. Es müsse auch in Zukunft möglich sein, friedlich ein Bier oder einen Wein in der Öffentlichkeit zu trinken.
HAZ vom 16.05.2018, S. 8:
66 Menschen an Drogen gestorben
Hannover. In Niedersachsen sind im vergangenen Jahr 66 Menschen an den Folgen des Konsums harter Drogen gestorben. Dies sei ein Mensch mehr als 2016, teilte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, am Dienstag in Berlin mit. Bundesweit ging die Zahl der Drogentoten um fast 5 Prozent auf 1272 zurück. Im Ländervergleich schneidet Niedersachsen dennoch vergleichsweise gut ab. Die Quote der Todesfälle war mit 0,8 je 100 000 Einwohner zwischen Harz und Nordsee lediglich halb so hoch wie im Bundesdurchschnitt (1,5).
HAZ vom 08.05.2018, S. 19:
Kaffee für zwei – Projekt
„Teilbar“ hilft Bedürftigen
Initiative der Diakonie und der Bäckerei Langrehr bietet Kunden die Möglichkeit, für Menschen mit wenig Geld Lebensmittel zu spenden
Von Juliane Kaune
In Neapel gibt es diese nette gastronomische Geste schon lange: Man bestellt einen Kaffee und gleich einen zweiten dazu – und der wird einem anderen Gast überlassen, ohne dass er dafür bezahlen muss. Als Liana Münker davon hörte, war sie überzeugt: „Das kann hier auch funktionieren.“ Mit ihrer Idee stieß die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Diakonie schnell auf Fürsprecher, und nun gibt es die ganz besondere Form der Einladung zum Kaffee auch in Hannover. Die Bäckerei Langrehr hat mit der Diakonie das Projekt „Teilbar“ gestartet. Ziel ist es, Menschen, die nicht viel Geld haben, auf unkomplizierte und unauffällige Art zu unterstützen.
In den beiden Lindener Langrehr-Filialen in der Limmerstraße 23 und am Lindener Marktplatz 5, die unter dem Namen Henri betrieben werden, können Kunden auf diese Weise nicht nur Kaffee spendieren. Das gleiche Prinzip gilt auch, wenn drei Brötchen oder ein Brot gekauft werden. Wer möchte, bezahlt jeweils die doppelte Menge und lässt einen entsprechenden Wertbon an eine Pinnwand heften. Auf die kann dann jeder andere Kunde zugreifen, um den Gutschein einzulösen.
„Das ist eine Geste der Nächstenliebe und eine würdevolle Art, anderen zu helfen oder sich helfen zu lassen“, findet Doris Schröder-Köpf. Die Landesmigrationsbeauftragte hat das Projekt als Mitglied des Kuratoriums der Diakoniestiftung mit vorangetrieben. Dass „Teilbar“ in Linden beginnt, sei passend, sagt sie. „Hier gibt es Menschen, die offen für Neues sind, aber durchaus auch viele Bedürftige.“
Quelle: Schaarschmidt
Das Projekt richte sich zunächst an „Adressaten der relativen Armut“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. „Das können Alleinerziehende ebenso sein wie Rentner oder Studenten – einfach alle Menschen, die ein geringes Einkommen haben.“ Natürlich seien auch Obdachlose von „Teilbar“ nicht ausgeschlossen. Man habe sich aber bewusst dafür entschieden, die Aktion nicht in der Innenstadt zu beginnen, wo es für Menschen ohne Wohnung bereits mehrere Hilfsangebote wie etwa die ökumenische Essensausgabe gebe.
„Es geht bei dem Projekt auch um Nachbarschaftshilfe“, betont Marco Langrehr, Geschäftsführer der gleichnamigen Bäckerei. Vielleicht lasse sich so das Gefühl des Zusammenhalts im Stadtteil stärken. „Denkbar ist auch, dass jemand sein Geld gerade vergessen hat, dann am Tresen einen Wertbon einlöst und am nächsten Tag selbst drei Kaffeerunden spendiert“, sagt Langrehr. In dem vierwöchigen Probebetrieb, der bereits gelaufen ist, hat er festgestellt, dass es bei den Kaffee- und Brötchenspenden zurzeit noch mehr „Geber als Nehmer“ gibt.
Darum wünschen sich alle Beteiligten, dass das Projekt schnell bekannt wird – und dass mehr Gastronomiebetriebe, Lebensmittelgeschäfte oder auch Dienstleister wie zum Beispiel Friseure mitmachen. Ziel sei es, „Teilbar“ Schritt für Schritt auf andere Stadtteile auszuweiten, kündigt Müller-Brandes an.
HAZ vom 08.05.2018, S. 19:
Engel mit Scheren
Das Hilfsprojekt Barber Angels Brotherhood bietet Obdachlosen einen kostenlosen Friseurbesuch an
Von Juliane Kaune
Wann ihm zuletzt die Haare geschnitten wurden? Tadeus schüttelt den Kopf. Er weiß es nicht mehr. Aber heute soll es sein, und es darf ruhig ordentlich was runter. Tadeus, der nicht so gut Deutsch spricht, deutet auf seinen Sitznachbarn – genauso kurz soll es werden. Und dann macht sich Friseurin Carola Kherfani auch schon daran, das lange, etwas wilde graue Haar ihres 65-jährigen Kunden zu stutzen.
Er braucht dafür nichts zu bezahlen. Denn Tadeus ist zu Gast bei Barber Angels Brotherhood. So nennt sich der bundesweit tätige Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, obdachlose Menschen zum Nulltarif zu frisieren. 152 Friseure und Friseurinnen haben sich dem Ende 2016 in Biberach gegründeten Hilfsprojekt mittlerweile angeschlossen; mit ihren Frisierkoffern sind sie ehrenamtlich in der Repu-blik unterwegs. In Niedersachsen hat Ministerpräsident Stephan Weil die Schirmherrschaft übernommen.
Gestern machen sechs Barber Angels auf dem Andreas-Hermes-Platz Station – und der Andrang beim kollektiven Freiluftfrisieren ist enorm. Etwa 80 Männer und einige wenige Frauen stehen Schlange. Sie treffen sich ohnehin immer montags hinter dem Pavillon, weil dort die von hannoverschen Bürgern gegründete Hilfsaktion „Wir tun was“ Kleidung und warme Mahlzeiten verteilt.
„Das ist großartig hier“, sagt Kherfani erfreut, die in Ricklingen als Friseurin arbeitet. Sie ist pausenlos am Routieren, sprüht mit der Wasserflasche, schneidet, kämmt und stylt. Nur föhnen ist bei dem sonnigen Wetter nicht nötig. „Jetzt habe ich mein Winterfell hiergelassen“, sagt Stefan und schaut auf den Boden. Dort liegen die Überbleibsel seines bislang schulterlangen Haares. Nun hat der 54-Jährige einen modischen Kurzhaarschnitt. „Sieht doch super aus, oder?“ Barber Angel Melanie Bethke, die eigens aus Braunschweig angereist ist, hält ihm den Spiegel hin. Stefan lächelt erst, dann strahlt er. „Ich hab’ sonst immer meinen Elektroschneider von Rossmann genommen, 9,95 Euro hat der gekostet.“ Einen Friseurbesuch könne er sich nicht leisten, sagt der Mann, der sich als „einer der letzten Hausbesetzer Hannovers“ vorstellt.
Genau darum sind die Barber Angels aktiv geworden. „Wir wollen Menschen, denen es wirklich schlecht geht, eine kleine Freude machen“, sagt Kherfani. „Das hier ist eine Sache mit Herz, das merkt man“, meint Erika, die sich für einen schulterlangen Haarschnitt entschieden hat. Nach schlechten Erfahrungen in einer Obdachlosenunterkunft lebt die 61-Jährige wiede auf der Straße. Sie sagt über die Barber Angels: „Hier werden wir ernst genommen, von den Behörden nicht.“
Quelle: Villegas
Ein schöner Haarschnitt, ein gepflegtes Aussehen – „das hat auch etwas mit Würde zu tun“, betont Kherfani. Die 38-Jährige trägt wie ihre Mitstreiter eine Lederkluft, die an einen Biker-Club erinnert. Das ist Absicht, so sollen mögliche Hemmschwellen bei den Wohnungslosen abgebaut werden. Kherfani wünscht sich sehr, dass sich bald deutlich mehr Kollegen aus Hannover den Engeln mit den Scheren anschließen: „Bisher bin ich das einzige offiziell registrierte hannoversche Mitglied.“ Sicher ist: Die Barber Angel kommen wieder. Alle acht Wochen wollen sie hier sein. Und bis dahin dürften auch so manche Haare wieder gewachsen sein.
HAZ vom 17.04.2018, S. 16:
Streit um Hilfe für Obdachlose
CDU: Sichere Unterkünfte nötig
(gum). Viele Obdachlose meiden die städtischen Unterkünfte und schlafen selbst im Winter lieber im Freien. Frauen und Männer sind darunter, einige sind Saisonarbeiter aus Bulgarien und Rumänien, sie fürchten Diebstähle, Gewalt und Missbrauch. Um diesen Menschen ein sicheres Dach über dem Kopf anzubieten, forderte die CDU von der Stadtverwaltung ein Konzept, damit Obdachlose diese Unterkünfte als echte Hilfe verstehen, etwa mit Sicherheitsdiensten und Schließfächern. „Sie werden weiter auf der Straße schlafen, wenn man ihnen die Angst nicht nimmt“, befürchtete CDU-Ratsherr Hans-Georg Hellmann am Montag im Sozialausschuss.
Wie zum Beweis für diese These berichtete zuvor eine ältere Frau über ihre Zeit in einer Unterkunft. Ein Jahr lang habe sie in einem Vier-Bett-Zimmer gelebt, und sie sei froh, diese Zeit „überlebt zu haben“. Als obdachloser Mensch werde man von der Gesellschaft unwürdig behandelt. In der Einwohnerfragestunde des Ausschusses setzte sie sich dafür ein, eine Unterkunft nur für Frauen einzurichten. Darüber wurde vor Kurzem im Stadtbezirksrat Mitte diskutiert.
Die Ampelkoalition lehnte den CDU-Antrag ab. „Die Lage für Obdachlose ist mies“, sagte für die Grünen Katrin Langensiepen. Um dies zu sehen, müsse man nur einmal am ZOB entlanggehen. Die Verwaltung bereite aber ein Konzept vor, wie man künftig dem Problem von obdachlosen Menschen insgesamt begegnen wolle. Dies wolle man abwarten, um dann „nachzujustieren“.
Patrick Döring (FDP) erinnerte an 582 Plätze, die für Obdachlose bereitstünden, dazu kämen 250 Plätze in Wohnungen, er warne vor dem „Zerrbild, hier würden Hunderte Menschen auf der Straße schlafen“. Für Julian Klippert (Die Partei) sind dies Ausreden, „ein Armutszeugnis“. Sein Appell an die Koalition: „Werden Sie jetzt aktiv. Aber offenbar haben wir noch nicht genug Obdachlose vor dem Rathaus am Trammplatz.“
HAZ vom 11.04.2018
Ausstattung spärlich, Gebühr luxuriös
Die Stadt Laatzen verlangt 577,50 Euro monatlich für einen Platz in ihrer neuen Obdachosenunterkunft
Von Bernd Haase und Stephanie Zerm
Rekordverdächtige 577,50 Euro monatlich kostet ein Platz in der neuen Obdachlosenunterkunft in Laatzen-Rethen. Dem Städte- und Gemeindebund ist kein vergleichbarer Fall bekannt.
Rechnet man die Nutzungsgebühren in der neuen Unterkunft für Obdachlose, Flüchtlinge und Asylbewerber an der Hildesheimer Straße in Laatzen-Rethen auf den Quadratmeter um, ergeben sich stolze 48,12 Euro monatlich. Vergleichbares wäre in Hannover nicht denkbar. Hier liegt der Höchsttarif bei 5,70 Euro. Der entscheidende Unterschied: Laatzen will kostendeckend arbeiten, Hannover tut das nicht.
An der Hildesheimer Straße liegen eine nicht mehr sanierungsfähige Altunterkunft und die neue Anlage direkt nebeneinander. Nach dem Umzug rieb sich ein 54-jähriger Obdachloser die Augen. Für das Zimmer in der alten Unterkunft wurden ihm 246 Euro monatlich Monatsgebühr berechnet, für das in der neuen 577,50 Euro – mehr als das Doppelte, obwohl die Ausstattung mit Bett, Spind und Holzstuhl alles andere als luxuriös ist.
Quelle: Dorndorf
Die Gebühren für die Unterkünfte sind nicht einheitlich, sondern werden von den Städten und Gemeinden per Satzung festgelegt, die wiederum die Räte beschließen. Laatzen berücksichtigt bei der Kalkulation nach Angaben von Thomas Schrader, Fachbereichsleiter Soziales, alle anfallenden Kosten und beruft sich dabei auf das Niedersächsische Kommunalabgabengesetz. Dazu zählen etwa Aufwendungen für Energieversorgung, Reinigung, Sicherheitsdienst und Pförtner, aber im Rethener Fall auch die Abschreibungen für den 4 Millionen Euro teuren Neubau, die der wesentliche Grund für den Gebührenanstieg waren. „Wir machen damit aber keinen Gewinn“, betont Schrader.
Hannover arbeitet mit einer Mischkalkulation, die alle Unterkünfte berücksichtigt. „Unsere Gebührensätze sind nicht kostendeckend“, sagt Stadtsprecher Dennis Dix. Auch andere Städte reichen an das Rethener Niveau heran. Langenhagen etwa verlangt 4 Euro pro Quadratmeter in seinen beiden Obdachlosenunterkünften, will diesen Satz allerdings nach Angaben von Sprecherin Juliane Stahl demnächst erhöhen. In Garbsen sind es derzeit 7,30 Euro.
Dem Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund ist kein Fall bekannt, in dem die Gebührensätze ähnliche Höhen erreichen wie diejenigen in Rethen. „Grundsätzlich gilt aber das Prinzip, dass kostendeckende Gebühren Vorrang haben“, sagt Sprecher Thorsten Bullerdiek. Andererseits ist es am Ende meist doch die öffentliche Hand, die zahlt. Da die wenigsten Obdachlosen das Geld für die Unterkunft aufbringen können, übernimmt im Zweifelsfall das Jobcenter die Kosten.
Der 54-jährige Laatzener ist Frührentner und erhält 690 Euro Rente im Monat. Aus der Obdachlosenunterkunft ist er Anfang des Monats ausgezogen. Mithilfe einer Bekannten hat er eine Wohnung mit Bad und Küche gefunden, für die er im Vergleich zum Gebührensatz für das Zimmer in Rethen nur die Hälfte zahlen muss. Auf einem Markt, auf dem es in allen Kommunen an günstigem Wohnraum mangelt, ist das keine Selbstverständlichkeit.
HAZ vom 22.03.2018, S. 19:
Ein Nachmittag für Obdachlose
Bahn-Azubis verteilen Essen / Teil eines bundesweiten Wettbewerbs
Von Maximilian Hett
Zehn Obstkörbe und 60 Liter an Getränken - die angehenden Lokführer der DB Cargo hatten am Mittwochnachmittag alle Hände voll zu tun. Sie gaben kostenlose Mahlzeiten an Obdachlose aus und luden zu Gesellschaftsspielen ein. Die Aktion ist Teil des bundesweiten Wettbewerbs "Bahn-Azubis gegen Hass und Gewalt", bei der Auszubildende der Deutschen Bahn eigene Projekte gegen Diskriminierung entwickeln.
Zehn Lokführer-Auszubildende im ersten Lehrjahr aus Seelze haben sich das Ziel gesetzt, Obdachlose zu unterstützen. "Wir haben uns bewusst dafür entschieden, denn wir sehen diese Leute jeden Tag am Bahnhof. Da haben wir uns gedacht, dass wir etwas für die machen", erzählte Mitorganisator Michael Dösselmann. Sein Team nennt sich "Verkuppeln & Entschlauchen".
Bereits vor Beginn der Aktion warteten Interessenten vor Türen. Die Azubis gingen von mindestens 150 Gästen aus, die im Laufe des Nachmittags ins Mitarbeiterrestaurant der Bahn an der Joachimstraße kommen. Hannovers Oberbürgermeister Stefan Schostock habe die Schirmherrschaft des Projekts übernommen, berichtete Dösselmann, und mit dem Rewe City in der Ernst-August-Galerie stießen die Organisatoren auf einen interessierten Sponsor.
"Die Bilanz bis jetzt ist positiv", sagte Azubi Stephen Symansky. Möglicherweise könne die Aktion wiederholt werden, meinte Dösselmann. Das Wichtigste sei bereits jetzt erreicht: "Menschen zu helfen."
HAZ vom 27.02.2018, S. 15:
Kälte bedroht Hunderte Obdachlose
Aktion am Hauptbahnhof macht auf Situation aufmerksam: Die Zahl der Obdachlosen in Hannover steigt dramatisch, für viele ist die Kältewelle eine akute Bedrohung.
Von Simon Benne
Es ist ein unerwartetes Bild. Ein Mann, der im eisigen Wind vor dem Bahnhof Klavier spielt – so etwas gibt es eigentlich gar nicht. „Aber es gibt ja auch Menschen, die im Winter auf der Straße schlafen, obwohl es so etwas eigentlich nicht geben sollte“, sagt der Pianist Arne Schmitt. Mit einem Auftritt in der Bahnhofstraße hat der Musiker jetzt auf die Situation der Obdachlosen in Hannover aufmerksam gemacht – diese verschlechtert sich durch die Kältewelle dramatisch.
Quelle: Behrens
Bis Ende der Woche sollen die Temperaturen fast durchgängig unter dem Gefrierpunkt liegen. Das Diakonische Werk schlägt daher Alarm. „Für Menschen, deren Immunsystem durch das harte Leben auf der Straße ohnehin angegriffen ist, können die Temperaturen im Extremfall lebensbedrohlich werden“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. „Wer derzeit draußen übernachtet, droht zu erfrieren, wenn die Schlafsäcke und Decken nicht warm genug sind.“
Die Zahl der Obdachlosen ist in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen. Nach Schätzungen der Diakonie gibt es in Hannover bis zu 4000 Menschen ohne feste Wohnung, mehr als 300 sollen dauerhaft im Freien leben. „Noch vor Kurzem wäre es undenkbar gewesen, dass so viele Menschen auch im Winter im Freien übernachten“, sagt Müller-Brandes.
Marc Schalow, Bereichsleiter im Bauamt, erwartet, dass die Zahl der Obdachlosen jedes Jahr um 10 Prozent wächst, auch durch Zuwanderer aus Osteuropa. Die Stadt will nun in insgesamt sieben Asylbewerberheimen Obdachlose einquartieren, unter anderem in den Containern am Waterlooplatz. Damit bietet die Stadt insgesamt 1250 Schlafplätze an. Noch vor wenigen Jahren hatten Experten es unisono abgelehnt, Flüchtlinge und Obdachlose gemeinsam unterzubringen. „Inzwischen sagen wir: Alles, was hilft, ist richtig“, sagt Müller-Brandes.
Die Stadt versichert, dass bei Bedarf kurzfristig weitere Notschlafplätze zur Verfügung gestellt werden. Derzeit gelte die sogenannte Winterregelung, nach der dort niemand abgewiesen werde. Die Ratsgruppe von Linkspartei und Piraten fordert unterdessen, einen Kältebus nach Berliner Vorbild einzurichten, in dem Obdachlose sich aufwärmen können und der sie zu Unterkünften fahren kann. In Hannover gibt es bislang einen Kältebus der Johanniter, der zweimal wöchentlich warmes Essen ausgibt, jedoch keine Notfallstation ist. Um die Probleme zu lösen, wären jedoch mittelfristig mehr Sozialwohnungen nötig, sagt Müller-Brandes: „Obdachlose haben so gut wie keine Chance, eine Wohnung zu bekommen.“
Hier gibt es Hilfe für Obdachlose
Die Diakonie rät, Obdachlose, die in Not sein könnten, anzusprechen. Gegebenenfalls solle man auch andere Passanten um Hilfe bitten. „Sind sie nicht ansprechbar, darf man keine Scheu haben, den Notruf zu wählen“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes.
Eine zentrale Beratungsstelle nimmt unter (05 11) 9 90 40 15 Hinweise auf Obdachlose in Not entgegen. Viele Betroffene stammten aus Osteuropa und wüssten kaum etwas über Hilfsangebote. Von 11 Uhr an können sich Obdachlose tagsüber im Rückzugsraum Kompass am Raschplatz aufwärmen. Im nahen Kontaktladen Mecki gibt es zudem medizinische Versorgung. Die Ökumenische Essensausgabe, Am Marstall 25, ist montags bis sonnabends von 11 bis 13 Uhr geöffnet. Eine Zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose gibt es in der Berliner Allee 8. Dort und in der Burgstraße 10 können auch Spenden wie Decken oder Schlafsäcke abgegeben werden.
HAZ vom 20.02.2018, S. 17:
Stadt zahlt Rückreise nach Osteuropa
Die Zahl der Obdachlosen in Hannover steigt, unter ihnen sind viele Armutszuwanderer vom Balkan / Vor allem Rumänen und Bulgaren lassen sich die Fahrt in die Heimat finanzieren
Von Jutta Rinas und Andrea Brack Pena
Die stetig steigende Obdachlosigkeit stellt die Stadt offenbar vor weitaus größere Probleme als bislang bekannt. Das geht aus einer Informationsdrucksache hervor, die am Montag Thema im städtischen Sozialausschuss war. Als höchst problematisch wird dort der Zustrom der Armutszuwanderer aus Osteuropa bezeichnet. Seit 2014, seit in der EU für Länder wie Rumänien, Bulgarien, Polen, Litauen und Lettland die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, kommen immer mehr von ihnen auch nach Hannover, um einen Job zu finden. Das Problem: Misslingt ihre Arbeitssuche, werden EU-Ausländer anders als wohnungslose Deutsche und anerkannte Flüchtlingen nicht vom deutschen Sozialhilfesystem aufgefangen. Sie landen oft ohne jede Perspektive auf der Straße.
Unterschiedliche Reaktionen
Recherchen der HAZ haben ergeben, dass die Stadtverwaltung darauf bereits seit Längerem reagiert, in dem sie den Betroffenen eine Rückreise in die Heimat finanziert. Das bestätigte Stadtsprecherin Konstanze Kalmus jetzt auf Nachfrage. Allein 2017 nahmen nach Angaben der Verwaltung rund 111 obdachlose Menschen diese Möglichkeit in Anspruch. 2015 und 2016 waren es sogar noch mehr, nämlich jeweils rund 140 Personen. Unter den obdachlosen Rückkehrern sind nach Angaben der Bahnhofsmission Hannover vor allem Rumänen und Bulgaren, aber auch Polen und Letten. Die Hilfsorganisation betreut obdachlose Menschen aus Osteuropa bei der Rückkehr in ihre Heimat. Angaben zu den Kosten der Rückreise machte die Leiterin der Bahnhofsmission, Andrea Weber, nicht. Bei Eurolines kostet eine Fahrkarte von Hannover nach Bukarest oder Sofia um die 100 Euro.
In Berlin haben die Rückkehrer unter den obdachlosen Osteuropäern im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt. Nachdem die Situation dort in illegalen Camps immer wieder eskaliert war, griff der Bezirk Neukölln hart gegen illegal campende Obdachlose in Parks durch. Er ließ diese räumen und organisierte überdies in enger Zusammenarbeit mit der Caritas Busreisen für Obdachlose aus Osteuropa. Abschiebeähnliche Zustände warfen Kritiker daraufhin Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) vor. Diese betonte allerdings, dass die Rückreisen der Obdachlosen auf Freiwilligkeit beruhten.
In Hannover wird nach Angaben von Kalmus vor allem den Menschen zur Annahme einer solchen bezahlten Rückfahrmöglichkeit geraten, die „keine Arbeit haben, wenig bis gar kein Deutsch sprechen und für die in Hannover keine Perspektiven ersichtlich sind“. Die Obdachlosen reagierten sehr unterschiedlich auf dieses Angebot. Vor allem Menschen, die gezielt nach Hannover gekommen seien, weil ihnen hier ein Job oder eine Wohnung versprochen worden sei, seien bereit, wieder zurückzureisen. Dies geschehe oft in einem Zeitfenster von zwei Wochen bis hin zu zwei Monaten, wenn den Menschen deutlich werde, dass sie ohne Sprachkenntnisse und Unterkunft kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Menschen, die schon länger in Deutschland lebten, seien eher selten bereit zurückzureisen, hieß es vonseiten der Stadt weiter. Eine gezielte Aufforderung zur Rückreise gebe es nicht.
Die Zahl der Obdachlosen in Hannover ist in der Vergangenheit so stark gestiegen, dass die Stadt mittlerweile dazu übergeht, ehemalige Flüchtlingsheime in Obdachlosenunterkünfte umzuwidmen. Derzeit ist dies in sechs Flüchtlingsheimen geplant.
Quelle: Kutter
Stadt prüft Hilfsangebote
(jr). Obdachlosigkeit war gestern das Thema im Sozialausschuss. Zwei Hilfsangebote soll die Verwaltung dem Ausschuss zufolge prüfen. Erstens: Kann das Angebot des Kältebusses nach Berliner Modell ausgeweitet werden? Bislang fährt er zweimal wöchentlich Übernachtungsplätze an, bietet Decken, heiße Suppe. Zudem sollen Stadt und Region bis Juni ein Wohnangebot nach dem Prinzip „Housing First“ entwickeln. Wohnungslose bekommen eine Bleibe, auch wenn sie keine zusätzlichen Hilfsangebote annehmen. In Hannover leben rund 4000 Wohnungslose, die bei Freunden oder in städtischen Einrichtungen schlafen. Dazu kommen 400 Obdachlose auf der Straße.
HAZ vom 31.01.2018, S. 22:
1200 Plätze für Obdachlose in Flüchtlingsheimen
Stadt richtet Unterkünfte auf dem Waterlooplatz, an der Lammstraße und an der Augustenstraße her / Vermutlich 4000 Wohnungslose in Hannover
Von Bernd Haase
Weil immer weniger Flüchtlinge in Hannover ankommen, gleichzeitig aber die Zahl der Menschen ohne festes Dach über dem Kopf steigt, reagiert die Stadtverwaltung: In das Containerdorf auf dem Waterlooplatz, in das ehemalige Hotel Flamme an der Lammstraße hinter dem Raschplatz sowie in ein ehemaliges Betriebsgebäude an der Augustenstraße hinterm Hauptbahnhof werden nun Obdachlose einziehen.
Quelle: Schaarschmidt
400 leben auf der Straße
Nach Angaben von Michael Heesch, Leiter des Fachbereichs Stadtentwicklung im Rathaus, stehen damit in Hannover 1200 Unterkunftsplätze zur Verfügung. „Damit können wir immer helfen, wenn wir sollen. Aber es ist knapp“, sagte Heesch jetzt in einer Sitzung des Bezirksrats Mitte. Denn es gibt wesentlich mehr Menschen ohne eigene Wohnung in der Stadt. Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes schätzt ihre Zahl auf bis zu 4000 Personen. „Viele ziehen bei Freunden, Verwandten oder Bekannten ein“, erläuterte Heesch den Politikern in der Bezirksratssitzung. Rund 400 Menschen aber lebten in Hannover auf der Straße.
Von den Containern auf dem Waterlooplatz werden bereits einige für die neue Klientel benutzt. Sie bieten 120 Plätze und sind für obdachlose Familien reserviert. Das frühere Hotel Flamme mit 35 Plätzen wird zu einer Männerunterkunft und derzeit für diesen Zweck hergerichtet. Noch vage sind die Pläne für das Gebäude an der Augus-tenstraße, weshalb es dort länger dauert, bis es für den Bezug zur Verfügung steht.
In der Bezirksratssitzung machte Diakoniepastor Müller-Brandes deutlich, dass in Hannover mehr Wohnungen mit Belegrechten für sozial Schwache gebraucht würden, um die Situation nachhaltig zu entschärfen. Zuhörer kritisierten darüber hinaus die Zustände in den Unterkünften.
Kritik an Zuständen
Eine Frau, die nach eigenen Angaben selbst ein Jahr lang in einem Obdachlosenheim wohnen musste, sprach von „unwürdigen Bedingungen in einem rechtsfreien Raum“. Eine Mitarbeiterin der Caritas berichtete von einer „desolaten medizinischen Versorgung“. Sie forderte Mindeststandards und Qualitätskriterien. Heesch erklärte, für die Unterkünfte engagiere die Stadt Betreiber und schließe mit diesen Verträge ab.
HAZ vom 31.01.2018, S. 18:
Trinkerecke am Raschplatz verschwindet
Vor ehemaliger Videothek werden Zwischenwände als Übergangslösung eingezogen
Von Peer Hellerling
Hannover. Der Hinterausgang der Passerelle am Raschplatz wird neu gestaltet. Seit Montag ist der Bereich vor der ehemaligen Videothek zwischen der Treppe und dem Discounter Lidl abgesperrt, Handwerker ziehen Wände ein. „Die Fläche hat seit geraumer Zeit keine Funktion mehr“, sagt Thomas Heinemann, Geschäftsführer der Hannover Region Grundstücksgesellschaft (HRG), die die Niki-Promenade in der Passerellenebene betreibt. Weil durch die Umbauarbeiten die einstige Trinkerecke wegfällt, sind die Zechenden allerdings bereits auf die andere Seite gewechselt und stehen nun vor den Clubs oder direkt auf dem Raschplatz.
Quelle: von Ditfurth
Die jetzige Umgestaltung folgt der Ankündigung der Betreibergesellschaft vom Dezember 2016, am Passerellenausgang Platz für neue Geschäfte zu schaffen. Der Umbau war im Vorfeld mit der Stadt und der benachbarten Sparkasse abgesprochen worden. „Im nächsten Schritt wollen wir Baurecht erwirken“, sagt HRG-Geschäftsführer Heinemann. Die jetzigen Wände seien lediglich eine Zwischenlösung, aber wesentlich stabiler als einfach nur ein Bauzaun. Damit keine dunkle Ecke zwischen Videothek und Discounter entsteht, wird auch dieser Bereich geschlossen und der Hintereingang zum Discounter etwas versetzt.
Wann die Übergangslösung durch einen endgültigen Umbau ersetzt wird, ist derzeit noch offen. „Wir hoffen, dass alles noch in diesem Jahr funktionieren wird“, sagt HRG-Chef Heinemann. Welche Geschäfte einziehen werden, steht ebenfalls noch nicht fest. Die HRG wolle erst das Baurecht abwarten, ehe es in konkrete Verhandlungen gehe. „Bis dahin können die umliegenden Geschäfte aber auf den neuen Wänden werben“, sagt Heinemann.
Mit der Ansiedlung weiterer Läden soll letztendlich auch der Trinkerszene entgegengewirkt werden. Um die Situation vor Ort in den Griff zu bekommen, führt das Sicherheitsunternehmen Protec bereits häufiger Kontrollgänge durch, außerdem erhöhte die HRG die Reinigungsintervalle auf dem Raschplatz und verstärkte die Beleuchtung.
HAZ vom 24.01.2018, S. 17:
Konni und Viktor sagen Danke
Nach HAZ-Bericht: Leser spenden für ehemalige Obdachlose
Von Bert Strebe
Sie richten sich nach und nach in ihrem neuen Leben ein und werden dabei immer sicherer: Am Tag nach Weihnachten hat die HAZ über Konni und Viktor berichtet, die nach Jahren auf der Straße eine kleine Wohnung im Anwesen der Johann Jobst Wagnerschen Stiftung in der Nähe der Glocksee gefunden haben. Die ersten zwei, drei Reaktionen auf den Artikel fielen durchaus unfreundlich aus: Ein paar Menschen ereiferten sich über die „Schmarotzer“, die doch nur Sozialhilfe haben wollten. Dann aber, einen Tag später, setzte eine wahre Welle der Hilfsbereitschaft ein.
Quelle: Schaarschmidt
Eine Leserin spendete Geschirr und legte Nudeln und allerlei anderes obendrauf. Eine weitere Leserin stellte eine ganze Umzugskiste mit Bettwäsche, Taschen und Damenjacken zur Verfügung. Eine dritte Leserin schließlich wollte sogar Sofas spenden – die dann aber leider nicht in die kleine Wohnung der beiden passten.
Jemand anderes brachte Konni und Viktor Spielzeug für ihren Kater vorbei. Ende vergangener Woche traf in der Redaktion ein Brief ein, handgeschrieben, mit 150 Euro für Konni und Viktor – anonym, kein Name, keine Unterschrift. Das Pärchen war ganz aus dem Häuschen. Es ist froh und dankbar und sehr gerührt nach so viel Unterstützung. Viktor, der aus Lettland stammt, hat angefangen, mehr Deutsch zu lernen.
Menschen, die für Obdachlose spenden möchten, können sich vor allem an die Diakonie wenden. Sie betreibt an der Burgstraße 10 eine Kleiderkammer, dort wird vor allem Damen- und Kinderkleidung benötigt. Die Diakonie-Kleiderkammer an der Berliner Allee 8 braucht Schlafsäcke und warme Herrenkleidung in kleinen bis mittleren Größen.
Höherwertige Kleidung nimmt die Secondhand-Boutique Edelmut an der Friesenstraße 57 entgegen. Ansonsten sind Spenden gebrauchter Dinge beim Fairkaufhaus gern gesehen (Zentrale an der Vahrenwalder Straße 207, Filialen an der Limburgstraße 1 in der Innenstadt sowie in Linden, Laatzen, Langenhagen und am Mühlenberg).
HAZ vom 13.01.2018, S. 21:
Soziales Kaufhaus feiert
Fairkauf ist seit zehn Jahren in der City
Die Zahl kann sich sehen lassen: Rund 1000 Kunden kaufen täglich bei Fairkauf in der City ein. Und am Freitagabend konnte das Sozialkaufhaus in der Limburgstaße auch niemand mehr übersehen: In bunten Farben erstrahlte das gesamte Gebäude. Die Inszenierung hatte sich die Fairkauf-Genossenschaft selbst zum Geburtstag geschenkt. Vor zehn Jahren wurde das Kaufhaus als Erstes seiner Art eröffnet – inzwischen sind fünf weitere Filialen im Stadtgebiet und im Umland dazugekommen.
Gespendete Secondhandware bietet das Innenstadt-Kaufhaus auf vier Etagen zu günstigen Preisen an. Einkaufen kann bei Fairkauf jeder, Bedürftige aber erhalten 20 Prozent Rabatt. Grundgedanke des Projekts ist es nicht nur, gut erhaltene Dinge an diejenigen weiterzugeben, die sie gut gebrauchen können. Vor allem will die Fairkauf-Genossenschaft Langzeitarbeitslosen und anderen Menschen, die Probleme haben, im Beruf Fuß zu fassen, eine solide Starthilfe geben.
Diese Idee ist aufgegangen: Mittlerweile seien mehr als 100 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden, sagte Vorstand Klaus Hibbe bei der Geburtstagsfeier. Insgesamt arbeiten an allen Fairkauf-Standorten heute 230 Menschen, darunter auch rund 60 Ehrenamtliche. Die Genossenschaft bietet spezielle Qualifizierungsprogramme für Arbeitslose an und bildet auch Einzelhandels- und Bürokaufleute aus.
Filialen gibt es inzwischen auch in Linden-Süd, Mühlenberg, Laatzen und Langenhagen, das zentrale Warenlager samt Verkauf ist in Vahrenwald zu finden. Geht es nach Hibbe und seiner Vorstandskollegin Nicola Barke, sollen noch weitere hinzukommen. „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Standorten, an denen wir unsere Idee verwirklichen können“, sagte Hibbe.
Quelle: Heidrich
HAZ vom 11.01.2018, S. 28:
Wohnungsnot treibt viele um
Immer mehr Familien suchen öffentliche Unterkünfte auf – Sorge um bezahlbares Zuhause wächst
Von Ulrike von Leszczynski
Berlin. Morgens um sieben ist die Welt nicht in Ordnung. An der Tür der Notunterkunft für wohnungslose Familien in Berlin klingelt ein Paar mit drei Kindern, alle sind durchgefroren. Sie haben großes Glück, ein Zimmer ist frei. Die Notunterkunft ist ein Rettungsanker für Familien, die letzte Stufe vor der Obdachlosigkeit. Sie kommen nach Zwangsräumungen oder nach der gescheiterten Suche nach einem besseren Leben in der deutschen Hauptstadt. Neu ist, dass die Notunterkunft fast jeden Tag belegt ist.
Quelle: DPA
Sozialarbeiterin Viola Schröder hat in kurzer Zeit erlebt, wie ein Berliner Randphänomen zu einem Problem wurde: Familien ohne Wohnung. Vor Kurzem stand ein Vater mit Beamtenjob in ihrem Büro. Scheidung, Schulden, keine Bleibe. Sie konnte ihn und seine Kinder nicht aufnehmen. „Wir müssen 20 bis 30 Familien pro Monat ablehnen“, sagt sie. „Das Problem ist in der deutschen Mittelschicht angekommen.“
In einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Deutschen Caritasverbandes zeigt sich, wie sehr die Angst vor hohen Wohnkosten inzwischen breite Bevölkerungsschichten erfasst hat. Rund drei Viertel der Befragten werten steigende Mieten nicht nur als Armutsrisiko. Selbst Durchschnitts- und Gutverdiener sehen eine Gefahr, dadurch ihre Wohnung zu verlieren. Für die Hauptstadt kommen solche Ergebnisse nicht überraschend. Rund 30 000 Menschen ohne Bleibe haben die Behörden im Jahr 2016 untergebracht. Wer bei Freunden auf dem Sofa schläft oder auf der Straße lebt, wird dabei noch nicht einmal erfasst.
Berlin ist da angekommen, wo München, Frankfurt, Köln oder Hamburg schon sind. Nach einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe könnte die Zahl der Menschen ohne feste Bleibe in Deutschland in diesem Jahr auf 1,2 Millionen steigen. 2016 waren es geschätzte 860 000, darunter auch 32 000 Kinder und Jugendliche, deren Eltern keine Wohnung mehr hatten. Nur ein kleiner Teil lebt obdachlos auf der Straße. Die meisten kommen unter, auch in kommunalen Heimen. Es trifft mehr Frauen als früher, mehr Jüngere oder Ältere, mehr Behinderte und nicht nur Singles.
Caritas-Präsident Peter Neher forderte am Mittwoch die Politik zum Handeln auf. „Wohnungsnot ist zu einer sozialen Wirklichkeit geworden, die gesellschaftliches Konfliktpotenzial birgt“, so Neher. Gab es 1987 nach Angaben der Caritas noch 3,9 Millionen Sozialwohnungen, waren es 2015 nur noch 1,3 Millionen.