2023
HAZ vom 16.02.2023, S. 20:
Aus für umstrittenes Obdachlosenheim
Stadt will baufällige Unterkunft an A 2 schließen / Neubau mit 160 Plätzen in Hainholz als Ersatz
Von Bärbel Hilbig
Quelle: Wölki
Die Stadt Hannover will eine ihrer umstrittensten Obdachlosenunterkünfte aufgeben und sucht aktuell Ersatz. Das düstere alte Gebäude liegt im Forst Mecklenheide – zwischen Mittellandkanal und der Autobahn 2 – am äußersten Stadtrand und weitab von der nächsten Wohnbebauung.
Unter Obdachlosen hat das Wohnheim an der Schulenburger Landstraße 355 einen besonders schlechten Ruf. Fachleute begrüßen deshalb die Pläne der Stadt, die nur durch Zufall bekannt wurden. „Ich habe noch von niemandem gehört, dass er dorthin will. Aber in jüngster Zeit war oft nur noch dort etwas frei“, sagt ein Sozialarbeiter einer Wohnungsloseninitiative. Für die Betroffenen sei das der „Worst Case“.
In dem Wohnheim gibt es rund 140 Plätze, meist in Zwei-Bett-Zimmern. Der Berater berichtet von deprimierenden Zuständen, hohem Sanierungsbedarf und blätterndem Putz. Für jeweils 20 Männer, die auf einem Flur wohnen, gibt es eine kleine Küche mit Zwei-Feld-Platte. Für Menschen in einer Notlage sei es unter diesen trostlosen Umständen noch schwieriger, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, meint der Sozialarbeiter.
Vor allem psychisch erkrankte Obdachlose blieben oft über eine lange Zeit in der Unterkunft, berichtet Anne Wolter, Leiterin der Beratungsstelle für Wohnungslose beim Diakonischen Werk. „Und viele andere wollen dort nicht hin.“ Allein schon der abgelegene Standort sei abschreckend, sagt Wolter. Von der Endhaltestelle Nordhafen dauere der Weg zu Fuß über den Kanal rund 20 Minuten. „Die Menschen sind dort an den Stadtrand abgeschoben, ohne Kontakt zur normalen Gesellschaft.“ Auch die vorherrschende Unterbringung in Doppelzimmern sei ungünstig. „Die Obdachlosen kommen so nicht zur Ruhe.“
In dem Haus ist es in der Vergangenheit immer wieder zu schweren Gewalttaten unter Bewohnern gekommen. Seit 2006 kamen dabei drei Menschen ums Leben. Damals starb ein Mann nach einer Prügelei mit einem Bekannten, 2007 erstach ein Obdachloser einen anderen. 2011 misshandelten drei Besucher einen Bewohner der Unterkunft schwer. Im gleichen Jahr wurde ein 45-Jähriger im Haus durch mehrere Stiche in den Oberkörper getötet.
„Wo viele Leute in einer schwierigen Lebensphase auf engem Raum zusammenwohnen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Konflikten kommt“, sagt der Sozialarbeiter. Fachleute aus der Wohnungslosenhilfe befürworten daher eher dezentrale kleinere Wohnheime oder als beste Lösung unter dem Stichwort „Housing First“ Einzelwohnungen in normalen Wohnvierteln.
Als Ersatz für die baufällige Unterkunft im Stadtteil Nordhafen strebt die Stadt allerdings einen Neubau mit 160 Plätzen in Einzelzimmern an, den ein privater Investor errichten soll. Die Stadt will das Gebäude dann mieten. „Je größer ein Wohnheim ist, desto schwieriger ist es, auf die Bedürfnisse der Bewohner einzugehen und bei Spannungen zu deeskalieren“, sagt Diakonie-Beraterin Wolter. Der Neubau soll in einem Gewerbegebiet in Hainholz entstehen. Dagegen hat die SPD im Bezirksrat Nord zu intervenieren versucht. Sie lehnt die Verlagerung einer großen Obdachlosenunterkunft in den Stadtteil ab. Hainholz weise bereits besondere Herausforderungen und Probleme auf, heißt es in einem Antrag, der durch einen Fehler der Verwaltung bereits öffentlich im elektronischen Kalender der Stadt einsehbar war. Die SPD-Fraktion kritisiert, dass es im Vorfeld keine Gespräche mit Sozialeinrichtungen oder der Obdachlosenhilfe gegeben habe.
HAZ vom 10.02.2023, S. 17:
Wo sollen Obdachlose hin?
Die Drogen- und Obdachlosenszene Hannovers soll sich künftig nicht mehr rund um den Raschplatz konzentrieren.
Wir zeigen, wo es außerhalb des Zentrums bereits neue Schwerpunkte für Obdachlose gibt – und wo weitere entstehen.
Quelle:Wölki/Dröse
Von Jutta Rinas
Hannover. Der Raschplatz – und mit ihm auch die bahnhofsnahen Plätze Andreas-Hermes-Platz und Weißekreuzplatz – werden mittlerweile von der Obdachlosen- und Drogenszene so stark okkupiert, dass andere Mitglieder der Stadtgesellschaft sie weitestgehend meiden. Das will die Stadtverwaltung jetzt ändern, in dem sie neue Freizeit- und Sportmöglichkeiten auf den Plätzen schafft. Doch wohin sollen die Problemgruppen, deren Leben sich bislang hauptsächlich am Raschplatz abspielt? Wir zeigen, wie stark die Stadtverwaltung die Drogen- und Obdachlosenszene rund um den Raschplatz in den vergangenen Jahren bereits entzerrt hat – und wie viele Einrichtungen künftig noch vom Raschplatz weichen sollen.
Der Kontaktladen „Mecki“ ist seit vielen Jahren die zentrale Anlaufstelle für Obdachlose am Vormittag in der Tiefebene des Raschplatzes (Raschplatz 8 c). Sie bekommen dort von Montag bis Sonnabend vormittags nicht nur etwas zu Essen, sondern werden auch medizinisch versorgt. Um den „Mecki“-Laden in der Passerelle zu entlasten, der zuletzt nicht nur stark renovierungsbedürftig war, sondern auch aus allen Nähten platzte, installierte die Stadtverwaltung bereits das „Mecki 2“ in der Listerstraße 2 neben der Spielbank. Langfristig sollen beide „Mecki“-Läden nicht mehr am Raschplatz angesiedelt sein, sondern in einer neuen Anlaufstelle in einer komplett umgebauten Immobilie in der Augustenstraße 11 gegenüber dem Landesarbeitsgericht unterkommen. Diese Adresse liegt rund 100 Meter vom Raschplatz entfernt. Umbaubeginn der Immobilie soll im Sommer dieses Jahres sein. Ein Umzugstermin der „Mecki“-Läden steht noch nicht fest.
Der Trinkraum „Kompass“ in der Lister Meile 2, ein Vorzeigeprojekt von Ex-OB Stefan Schostok (SPD), der es Obdachlosen erlaubte, alkoholische Getränke mit in die Einrichtung zu bringen, wurde 2021 zugemacht. Seitdem beherbergen die Räume das „Mecki 2“.
Weitere Anziehungspunkte für Bedürftige am Raschplatz waren bislang zwei Essensausgaben am Raschplatz unter der Brücke Hamburger Allee. Die Essensausgabe des Bollerwagencafés versorgte immer dienstags von 16 bis 18 Uhr um die 200 Bedürftige. Sie ist aufgegangen im neuen Frauentreff des Bollerwagencafés täglich von 10 bis 16 Uhr in der Hagenstraße 26. Die ehrenamtliche Essensausgabe der St.-Franziskus-Gemeinde für Obdachlose unter der Brücke Hamburger Allee, sonnabends um 12 Uhr, gibt es dort noch. Stand bislang ist nach Angaben des Gemeindepfarrers, der die Essensausgabe organisiert: Sie bleibt erst einmal.
In der Niki-de-Saint-Phalle-Promenade am Raschplatz konzentriert sich bislang auch ein großer Teil der Crackszene Hannovers, neben Hamburg und Frankfurt am Main mit rund 150 Süchtigen ist es eine der Hochburgen Deutschlands. Eine Entlastung des Raschplatzes soll kurzfristig ein Konsumraum für Crackabhängige bringen: Ein Container direkt neben dem Stellwerk an der Fernroder Straße mit Platz für acht Menschen. Der Zeitpunkt der Eröffnung steht noch nicht fest. Zusätzlich geplant ist eine Anlaufstelle für Cracksüchtige, in der Crack, ähnlich wie Heroin substituiert werden kann. Ort und Start sind noch ungewiss. Geplant ist eine dezentrale Unterbringung, die sich nicht in der Nähe des Bahnhofs befindet.
Auch am Nordausgang des Bahnhofs halten sich zur Zeit viele Drogensüchtige auf. Die Stadtverwaltung will sie stattdessen in der Fernroder Straße konzentrieren. Sie versucht dies zu erreichen, in dem sie am Sucht-Anlaufpunkt „Stellwerk“ an der Fernroder Straße das Umfeld verbessert: Mehr Schutz vor Witterung soll hergestellt werden, Bänke und Sitzgruppen montiert werden. Dies soll bis zum Herbst geschehen sein.
Die Essensausgabe der Obdachlosenhilfe Hannover befand sich lange am Andreas-Hermes-Platz. An drei Tagen in der Woche zog sich von 17 bis 19 Uhr eine Schlange der Bedürftigen hinter dem Pavillon rund um den Hermes-Brunnen an der Weißekreuzstraße entlang bis hinters Intercity-Hotel. Bereits um 15 Uhr standen in Hochzeiten die ersten Obdachlosen für Essen und Kleidung an. An die 1000 Menschen versorge man pro Woche, betonte der Vorsitzende Mario Cordes. Übergangsweise zog die Essensausgabe an den Georgsplatz. Seit dem 14. November 2022 gibt es sie an drei Tagen im Cafe „Mensch“ in der Podbielskistraße 102.
Ein guter Vorstoß
Von Jutta Rinas
Verdrängt die Stadt Hannover die Obdachlosen und Drogenabhängigen vom Raschplatz, um dort künftig Lifestyle-Angebote für den Rest der Stadtgesellschaft zu machen? Vertreibt sie sie aus der Stadtmitte, damit sie im Zentrum nicht mehr sichtbar sind – und bringt sie weitab vom Leben in der City in Randgebieten unter? Die Wahrheit ist: Der gesamte Bereich hinter Hannovers Hauptbahnhof ist nicht nur für die Stadtgesellschaft, sondern auch für die Problemgruppen dort längst unerträglich geworden. Immer gibt es dort mittlerweile Konflikte zwischen der Heroin- und der Crackszene, den Trinkern und den Obdachlosen. Man hat den Eindruck, dass die Stimmung immer heftiger, immer gereizter, immer schlimmer wird. Und Lösungsmöglichkeiten direkt am Raschplatz sind auch nicht in Sicht, seitdem klar ist, dass für neue Hilfsangebote wie einen deutlich vergrößerten Kontaktladen „Mecki“ dort keine Räumlichkeiten zu finden sind.
Der gesamte Bereich ist nicht nur für die sogenannten „normalen“ Bürger, sondern auch für die Problemgruppen dort mittlerweile ein verlorener Ort. Es ist deshalb auch in ihrem Sinne, wenn die Stadtverwaltung versucht, sie zu entzerren und auf Dauer an verschiedenen Orten im Stadtgebiet unterzubringen. Es wird sich noch zeigen müssen, ob jede der von der Stadtverwaltung anvisierten Lösungen tatsächlich trägt. Es wäre gut, wenn die Stadtverwaltung offen genug ist, um dann auch nachzusteuern. Aber dass sie sich mit ambitionierten Plänen auf den Weg gemacht hat, ist auch für die Randgruppen vom Raschplatz gut.
HAZ vom 10.02.2023, S. 17:
Stadt eröffnet neuen Tagesaufenthalt
Rund 100 Menschen ohne ein Dach über dem Kopf finden in Vahrenheide künftig tagsüber Platz
Von Jutta Rinas
Quelle: Richert
Noch sind keine Raumteiler und Paravents in der 1400 Quadratmeter großen Halle in der Dornierstraße 2 aufgestellt. Sie sollen vom kommenden Montag an die vielen verschiedenen Bereiche in dem neuen Tagesaufenthalt in dem Gewerbegebiet in Vahrenheide direkt gegenüber von Hannovers größter Notschlafstelle an der Straße Alter Flughafen noch deutlicher unterteilen. Frauen und Männer werden dort künftig in separaten Bereichen schlafen können. Es gibt einen Platz für Wohnungslose mit Hunde und eine gemütliche Sofaecke. Die Obdachlosen können WLAN nutzen und in einer separaten Büroetage mit Sozialarbeitern sprechen. Es gibt eine moderne Küchenzeile, wo die Bedürftigen selbst mitgebrachtes Essen aufwärmen oder kochen können, und Tische mit Stühlen zum Sitzen oder Essen.
Das zusätzliche Angebot der Stadt Hannover für obdachlose Menschen bietet Platz für bis zu 100 Menschen und wird vom Deutschen Roten Kreuz in der Region Hannover betrieben. Es schließt eine Lücke im Angebot für Obdachlose in dem Gewerbegebiet in Vahrenheide. Denn bislang konnten Menschen, die in der Notschlafstelle am Alter Flughafen übernachtet hatten, dort nur unter beengten Platzverhältnissen und nur im Winter auch den Tag verbringen. Jetzt ist dieses in dem neuen Tagesaufenthalt auf der anderen Straßenseite möglich. Er löst das Tagesangebot in der Notschlafstelle ab.
Der neue Tagesaufenthalt biete zusammen mit der Notschlafstelle Alter Flughafen ein 24-Stunden- Angebot, das nach dem Winter verstetigt werden soll, sagte Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) zur Eröffnung am Donnerstag. Zudem sei der neue Tagesaufenthalt als dezentrale Anlaufstelle ein wichtiger Baustein in der Weiterentwicklung der bahnhofsnahen Plätze. Hannovers Sozialdezernentin Sylvia Bruns betonte, dass man gute Erfahrungen damit gemacht habe, den Wohnungslosen in Hannover auch außerhalb des Zentrums rund um den Bahnhof ein Angebot für einen Tagesaufenthalt zu machen. Vergangenen Winter hatte die Stadt die Notschlafstelle am Alten Flughafen wegen der Kälte erstmals auch tagsüber geöffnet, sodass Menschen nach dem Übernachten dort bleiben konnten. 70 bis 80 Obdachlose hielten sich dort regelmäßig tagsüber auf. Der Tagestreff sei zudem über den öffentlichen Nahverkehr gut zu erreichen.
Perspektivisch plant die Stadt auch die Flächen vor dem Gebäude zu nutzen, beispielsweise für Hochbeete, eine Grillecke und Tischtennisplatten.
HAZ vom 09.02.23, Stadt-Anzeiger Süd, S. 2:
Niedergerke-Stiftung fördert Lebensmittelausgabe
Durch die finanzielle Unterstützung kann der Johannisverteiler in Misburg künftig mehr haltbare Lebensmittel kaufen
Von Sonja Scheller
Quelle:Schaarschmidt
Misburg. Der Johannisverteiler in Misburg soll Menschen in Not mit Lebensmittel- und Sachspenden unterstützen. Da nicht genug haltbare Lebensmittel gespendet werden, muss Organisatorin Angelika Jeinsen diese dazukaufen. Dabei werden die 2000 Euro helfen, mit denen die Ricarda und Udo Niedergerke Stiftung das Projekt verteilt auf die nächsten vier Monate unterstützt.
„Wir waren sehr beeindruckt von dem, was Frau Jeinsen da privat auf die Beine gestellt hat“, berichtet Udo Niedergerke. Vor Ort haben er und seine Frau sich die Lebensmittelausgabe angeschaut. „Nach einer Stunde war immer noch so eine lange Schlange da. Da war klar, hier müssen wir helfen.“
Inflation sorgt für mehr Bedarf
Die Lebensmittelausgabe im Keller der Johanniskirche bietet Menschen eine Anlaufstelle, die aufgrund der gestiegenen Lebensmittelkosten Schwierigkeiten haben, diese zu bezahlen. Vom Bezirksrat gab es einen Kühlschrank, der Integrationsbeirat hat Regale dazugegeben, wie die SPD-Bezirksratsfrau berichtet.
„Durch die Energiekrise und Inflation brauchen viele Unterstützung“, sagt Jeinsen. Unter den Bedürftigen sind sowohl Geflüchtete als auch viele Misburger mit geringem Einkommen oder geringer Rente.
Dreimal die Woche können Jeinsen und ihr Team Obst und Gemüse von Rewe, zweimal die Woche von einem Biomarkt abholen. Bäcker Heiser spendet Backwaren. „Es mangelt an haltbaren Lebensmitteln. Die bekommen wir von Privatleuten“, sagt Jeinsen. Durch Geldspenden wie die der Niedergerke-Stiftung kann sie weitere Lebensmittel einkaufen wie Suppen oder Mehl.
Motivation für die Ausgabe seien Initiativen wie Foodsharing und das Kleefelder Projekt „FairSchenker“ gewesen, „so was müsste es auch in Misburg geben“, dachte sich Jeinsen. Zumal es im Stadtteil keine Tafel gebe. Doch im Gegensatz zu den Tafeln braucht es im Johannisverteiler keinen Berechtigungsschein.
Ehrenamtliche gesucht
„Es läuft sehr gut, Samstag zwischen 11 und 12 Uhr kommen die meisten Menschen.“ So wolle sie auch Berufstätigen die Möglichkeit geben, zur Ausgabe zu kommen. Zudem ist die Ausgabe montags und mittwochs von 13 bis 14 Uhr geöffnet. 15 Ehrenamtliche unterstützen die Ausgabe aktuell. „Wir brauchen aber noch Ehrenamtliche, die Lebensmittel mit ihrem Auto abholen und auch schwere Kisten tragen können“, sagt Jeinsen.
Ricarda und Udo Niedergerke finden es wichtig, in Hannover und Umgebung zu helfen. Da sie in Misburg 30 Jahre lang mit ihren beiden Praxen niedergelassen waren, hat der Stadtteil für sie eine besondere Bedeutung: „Wir sind in Misburg noch mehr mit dem Herzen dabei als sonst schon. Das ist unsere zweite Heimat.“ Da ihre Stiftung unter dem Dach der Bürgerstiftung steht und nur gemeinnützige Vereine förderwürdig sind, läuft das Spendenkonto über den ukrainischen Verein. Sollte das Projekt weitergehen, möchten die Niedergerkes es gern weiter unterstützen.
HAZ vom 24.01.2023, S. 18:
„Nichtstun ist auch keine Lösung“
Ende April soll ein Beachvolleyballfeld auf dem Raschplatz entstehen. Auf die Ankündigung folgten teils heftige Reaktionen. Welche Strategie verfolgt die Stadt hinter dem Hauptbahnhof? Fragen an Sozialdezernentin Sylvia Bruns.
Conrad von Meding und Jutta Rinas
Stadtverwaltung und -politik nehmen sich die Plätze hinter dem Hauptbahnhof vor. Raschplatz, Andreas-Hermes-Platz und Weißekreuzplatz sollen wieder für alle Menschen nutzbar sein. Denn bisher werden diese zentralen Flächen überwiegend von Menschen mit Wohnungs- und Suchtproblemen genutzt, und das so intensiv, dass Menschen ohne solche Probleme sich wenig willkommen fühlen.
Für die Umnutzung gibt es Ideen, etwa ein Café auf dem Weißekreuzplatz, ein Kulturangebot anstelle des großen Brunnens auf dem Andreas-Hermes-Platz und zumindest als Experiment ein Beachvolleyballfeld auf dem Raschplatz im Frühsommer. Aber was passiert mit den Gruppen, die bisher dort lagern?
Frau Bruns, vor zwei Wochen sickerte durch, dass die Stadt für den Frühsommer ein Beachvolleyballfeld auf dem Raschplatz plant – ausgerechnet dort, wo sich dauerhaft Wohnungslose und Drogenabhängige aufhalten. Werden diese Gruppen damit nun endgültig von dort verdrängt, oder haben Sie sie sogar vergessen?
Nein, die haben wir nicht vergessen. Übrigens auch von Anfang an nicht, denn wir arbeiten schon lange an weiterführenden Ideen dazu, was wir diesen Menschen für Alternativen anbieten können. Die halten sich dort ja nicht auf, weil es dort so angenehm ist.
Aber Fakt ist, dass in Briefen von Leserinnen und Lesern und in Kommentarspalten überall die Frage auftaucht: Ein Sandsportfeld auf dem Raschplatz – das wird doch das größte Spritzenversteck der Stadt, in dem sich zudem Freizeitsportler an Scherben die Füße blutig treten. Haben Sie da keine Sorge, dass beide Nutzungen schwierig unter einen Hut zu bringen sein könnten?
Wie ich ja schon sagte: Die Menschen sind nicht dort, weil es so schön ist. Sondern weil man in der unteren Etage des Bahnhof-Nordausgangs im Winter trocken stehen kann, weil es etwas wärmer ist und man die Möglichkeit hat, sich dort gut aufzuhalten. Das Problem ist aber zugleich, dass es so wenig alternative Treffpunkte für Menschen mit Suchtproblemen und für Menschen ohne Wohnung gibt, dass es zu einer Konzentration im Bereich von Raschplatz und Andreas-Hermes-Platz kommt. Deshalb arbeiten wir an Konzepten, um die Situation zu entzerren. Wir müssen Alternativen bieten. Also das Gegenteil von Verdrängung: Orte schaffen, an denen Menschen sich besser aufgehoben fühlen.
Dann mal konkret: Wie wollen Sie das hinbekommen – ohne dass zugleich Hannover ein so attraktiver Ort für Menschen mit Suchtproblemen wird, dass wir vermehrt Menschen hier anziehen?
Wir haben ein Bündel von Problemlagen dort, und deshalb versuchen wir, ein entsprechendes Bündel an Lösungen anzubieten. Wir werden die räumliche Situation des Kontaktladens Mecki lösen, weil sie unbefriedigend ist. Wir werden zudem insgesamt die Angebote in Bahnhofsnähe verbessern und zusätzlich welche in den Stadtteilen schaffen. Außerdem verstärken wir die Straßensozialarbeit im Bereich Sucht, denn wir haben während der Corona-Krise erlebt, dass sich die Drogenszene insgesamt wieder stärker auf die Straße verlagert hat. Und speziell bei der Crackszene haben wir in Hannover anwachsende Zahlen wie in vielen anderen Großstädten, auch dafür brauchen wir Angebote.
Gehen wir das doch mal der Reihe nach durch. Was passiert mit dem Wohnungslosen-Kontaktraum Mecki?
Der Mecki nutzt seit etwa einem Jahr zusätzlich zum Angebot in der unteren Raschplatz-Ebene auch die ehemaligen Kompass-Räume auf der dem Fernsehturm zugewandten Seite des Raschplatz-Gebäudes. Dort finden überwiegend Nachtangebote statt. Wir brauchen dringend eine räumliche Erweiterung und würden den Mecki dabei gerne vom Raschplatz entzerren. Er soll zur Augustenstraße beim Amtsgericht neben dem Stellwerk umziehen. Dort sind für den Mecki im Erdgeschoss und in der ersten Etage der städtischen Immobilie Räume vorgesehen. Zusätzlich sollen – auch durch Aufstockung einer Etage – oben in zwei Etagen Plätze für die städtische Unterbringung entstehen.
Gibt es dafür schon einen Termin?
Die Bauarbeiten werden noch in diesem Sommer starten. Zusätzlich werden wir für die offene Drogenszene den Vorplatz in der Fernroder Straße verbessern, indem wir Unterstände und Sitzgelegenheiten aufbauen, um dort einen wind- und regengeschützten Bereich zu schaffen. Die Menschen treffen sich derzeit am Nordausgang des Hauptbahnhofs, weil sie keinen anderen Ort haben, um soziale Kontakte aufrechtzuhalten. Es ist gewissermaßen ihr Wohnzimmer. Da schaffen wir nun eine Alternative.
Und dann wollen Sie auch mehr Straßensozialarbeit für Suchtkranke anbieten.
Genau. Wir haben sehr gute Erfahrung mit unseren vier Sozialarbeitenden gesammelt, die sich seit einem Jahr insbesondere um obdachlose Frauen kümmern. Aber das Angebot für Suchtkranke kann sich aktuell überwiegend nur darauf beschränken, frische Spritzen anzubieten und Informationen zu verteilen. Deshalb schaffen wir nun ein weiteres, vierköpfiges Team, das vor allem den medizinischen Bereich der Sozialarbeit abdeckt. Also: Braucht jemand eine klinische Einweisung? Braucht jemand einen Entzug? Oder einen Übernachtungsplatz?
Wann soll das passieren?
Wir werden die Stellen jetzt ausschreiben. Sobald wir Personal gefunden haben, starten wir. Und wir sind sicher, dass wir gute Leute finden, weil wir viel zu bieten haben.
Wie wollen Sie Angebote in den Stadtteilen schaffen?
Die Idee ist, nicht alles am Raschplatz zu konzentrieren. Wir haben viele gute Erfahrungen gesammelt mit dezentralen Angeboten, solange sie gut mit Bus und Bahn angebunden sind, zum Beispiel die Unterkunft in Lahe und einiges mehr. Jetzt kommt ein zusätzlicher Tagesaufenthalt in der Dornierstraße 2 hinzu. Auf 1400 Quadratmetern wird dort ein Raum dafür geschaffen. Die Immobilie liegt nahe zur Unterkunft Alter Flughafen und ist gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.
Gibt es für die Eröffnung einen konkreten Termin?
Das Projekt hatte sich zuletzt etwas verzögert durch notwendige Bauarbeiten in Bezug auf Sicherheit und Brandschutz. Aber die sind jetzt gelöst, es kann in Kürze losgehen. Ich möchte betonen: Wir finanzieren das komplett alleine, obwohl es eigentlich auch in den Aufgabenbereich der Region fällt.
Bleibt noch die Sache mit den Crack-abhängigen. Dass ein Substitutionsprojekt, in dem Menschen Crack unter medizinischer Aufsicht verabreicht wird, derzeit noch an fehlenden Gesetzen scheitert und Sie sich mit anderen Bundesländern zunächst abstimmen müssen, hat ja jüngst der städtische Drogenbeauftragte Frank Woike im Interview erklärt. Aber Ihr Konzept sieht jetzt einen Konsumraum am Platz neben der Fernroder Straße vor. Was ist da geplant?
Wir würden unsere wirklich guten Erfahrungen mit der Diamorphinambulanz sehr gerne auch auf den Crackbereich übertragen. Wir glauben, dass wir damit große Probleme im öffentlichen Raum reduzieren. Das Thema haben derzeit alle Großstädte, aber keine bekommt es alleine hin – wir hoffen auf eine bundesweite Lösung. Aber im Bereich des Konsumraums wollen wir nun vorangehen.
Wie soll solch ein Konsumraum konkret funktionieren?
Wir stellen neben dem Stellwerk an der Fernroder Straße einen Container auf. In dem Container wird Platz für acht Menschen sein, die im geschützten Raum Crack rauchen können. Dabei können sie die sozialen Angebote des Stellwerks mitnutzen.
Ist so etwas denn derzeit legal?
Wir sind dazu in Gesprächen mit den zuständigen Behörden und handeln hier selbstverständlich nur in enger Abstimmung. Auf diese Weise könnte man die Begleiterscheinungen der Sucht abmildern. Wir hoffen, sehr kurzfristig damit starten zu können.
Nur bedeutet das ja, dass Sie im Bereich des neuen Mecki-Standorts und des Stellwerks wieder eine Massierung von Menschen in sehr unterschiedlichen Problemlagen schaffen: Wohnungslose, Heroinabhängige, Crackabhängige – ist solch eine Ballung sinnvoll?
Natürlich würden wir die zentrumsnahen Angebote gerne etwas mehr verteilen. Aber das Immobilienangebot in der Innenstadt für solche Nutzungen ist nicht groß. Abgesehen davon schaffen wir ja parallel eine Entzerrung durch die Angebote in den Stadtteilen.
Aber wenn wir jetzt zurückkommen zum Beachvolleyballfeld: Wenn das Ende April startet, dann sind doch nicht einmal 50 Prozent der Projekte angelaufen, oder?
Unser Angebot am Raschplatz soll im Mai starten. Wichtig ist, dass erste bauliche Schritte – etwa an der Fernroder Straße – vollzogen sind, wenn das Wetter erwartbar wieder schlechter wird, also bis zum Herbst. Für mich gilt: Nichtstun ist auch keine Lösung.
Aber das bedeutet ja auch, dass viele Menschen mit problematischer Biografie noch am Raschplatz sein werden, wenn das Sandprojekt startet. Glauben Sie, dass das funktioniert?
Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass die Menschen dann plötzlich nicht mehr dort sind. Aber es ist schließlich auch der Hauptbahnhof einer Großstadt. Wir versuchen jetzt einen neuen Anlauf, die Probleme am Nordausgang des Bahnhofs anzugehen. Das Ziel ist, dass es gute Alternativangebote für Menschen in Problemlagen gibt und dass wir an den bahnhofsnahen Plätzen wieder eine Atmosphäre schaffen, in der sich alle wohlfühlen. Ich glaube, mit unserem Konzept gehen wir einen guten Schritt auf diesem Weg.
HAZ vom 21.01.23, S. 24:
„Sollen sie ihren Sand doch abladen“
Obdachlose und Suchtkranke am Raschplatz haben Verständnis für die Pläne der Stadt, das Areal mit einem Beachvolleyballfeld zu beleben. Verdrängen lassen wollen sie sich aber nicht.
Von Johanna Steele, Nina Hoffmann und Petra Rückerl und Jutta Rinas
Quelle:Wölki
Freitagnachmittag in der Fernroder Straße kurz vor dem Stellwerk, einer Beratungsstelle für Drogenabhängige. Während viele Beschäftigte im benachbarten Amtsgericht schon Feierabend haben oder daran denken, sind hier einige Menschen im „Arbeitsstress“. Dealer – nach Angaben der Kundschaft albanischer Herkunft – verteilen ganz offen ihre „Steine“, andere sagen Crack.
Das hartgewordene Gemisch, gekocht aus Kokain, Natron oder Ammoniak, das in kleinen Pfeifen herumgeht und für das die Nutzer pro Stein 5 bis 10 Euro zahlen, ist ein begehrtes Gut. Wird die Ware verteilt, wird sie sofort in die Pfeifen gesteckt und angezündet. Diese gehen dann reihum, mehrere Kreise von crackrauchenden Menschen verteilen sich auf dem Gelände. „Die Albaner wollen sofort Geld sehen“, erzählt Rainer erbost. Mit 73 Jahren ist er einer der Ältesten hier.
Ohne Cash keine Steine, das bringt wiederum einige Nutzer hier sichtlich in Stress. Wer suchtkrank ist, ist auf Hochleistung getrimmt, um sich seinen Stoff leisten zu können. „Mit den Albanern ist alles schlimmer geworden“, sagt Rainer. „Denen geht es nur ums Geld. Egal wo. Wenn die Stadt auf dem Raschplatz Beachvolleyball spielen lässt, dann verticken die ihr Zeug eben woanders.“
Er braucht nach eigenen Angaben nur eine Pfeife am Tag – wenig für einen, der seit 17 Jahren auf Droge ist. „Ich habe erst mit 56 angefangen. Meine Tochter war drauf und ich wollte nachvollziehen, warum. Nach drei Versuchen war ich dann drauf.“ Eigentlich würde ihm das Crack gar nichts mehr bringen, sagt er. Nur schädigen, denn die Lunge des auf den Rollstuhl angewiesenen Mannes ist kaputt. „Ist so eine Gewohnheit, wie rauchen“, sagt er. Und steckt sich eine Zigarette an.
„Man braucht immer mehr“
Auch Monika ist süchtig nach Crack, „wenn ich das Geld hätte, würde ich zehn Pfeifen täglich rauchen“. Das Höllische an diesem Stoff sei nämlich seine begrenzte Wirkung, von drei bis höchstens zehn Minuten sprechen die suchtkranken Menschen. „Man wird gierig“, sagt die 63-Jährige, „man braucht immer mehr.“ Früher sei die Qualität besser gewesen, heute werde das Kokain immer stärker gestreckt, was Einfluss auf die Wirkungszeit hätte. „Seit die Albaner hier sind, wird alles schlimmer“, erzählt auch sie, die früher von Alkohol und opiumhaltigen Tabletten abhängig war. Wobei sich unter den Abhängigen auch Albaner aufhalten.
Die Mischung der Abhängigen sind wie die verschiedenen Suchtstoffe genauso wenig zu trennen wie überall rund um den Bahnhof. „Es gibt keine streng getrennte Klientel“, sagt Serdar Saris, Geschäftsführer der Sucht- und Jugendhilfeträger Step, zu dem auch das Stellwerk mit Nutzerraum, warmem Essen und Streetworkern gehört.
Die Alkoholiker auf der Raschplatztreppe, die Drogenabhängigen mit und ohne Wohnung, die Heroinabhängigen und Crackraucher – „die kommen alle hierher“, sagt Saris. Wer die eine Droge nicht bekomme oder nicht finanzieren könne, nehme eben die andere. „Wenn der Körper nach Stoff schreit und es gibt kein Heroin oder Crack, aber Alkohol und Tabletten, dann wird eben das genommen.“ Im Stellwerk sind alle gleich, wer hierher kommt, ist ein suchtkranker Mensch, der Hilfe benötigt und sie bekommt.
Die Belebung des Raschplatzes durch sportliche Ereignisse findet Saris völlig okay. Dass die Stadt es ihm sagte, bevor er es in den Medien lesen konnte, habe er fair und gut gefunden. Doch klar sei, dass sich die Szene der Suchtkranken nicht verdrängen lasse. „In allen großen Städten ist die am Bahnhof zu finden“, sagt er. Parallel zur Aufwertung des Raschplatzes hätte er gern mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Mindestens vier Vollzeitstellen für den ganzen Bereich um den Bahnhof und nahe gelegene Notfallschlafplätze für die Drogenkranken seien notwendig. Gerade im Winter. Wenn die Menschen einnickten, könne das tödlich sein.
Geschützte Räume nötig
Monika und Rainer verstehen gut, dass man den Raschplatz aufwerten will. „Da kann man mit Kindern nicht hingehen jetzt, das ist furchtbar“, sagt Rainer. Monika würde sich wünschen, dass man den Platz hier vor dem Stellwerk mit geschützten und überdachten Räumen für Süchtige und Trennwänden zum Bahnhof ausstatten würde. „Man muss ja das ganze Elend nicht sehen.“ Ein jüngerer Obdachloser am Raschplatz hat ebenfalls Verständnis dafür, dass dieser Ort abschreckt: „Ich habe selber eine siebenjährige Tochter und würde die da niemals durchführen.“ Wenn es kalt sei, wie jetzt, „ist es hier überdacht und wärmer“. Im Beachvolleyballsand würden dann auch die Scherben und Spritzen liegen, deswegen sieht er die Idee der Stadt kritisch. Einem anderen wohnungslosen Mann ist das wurscht. „Sollen sie ihren Sand doch hier abladen. Dann setze ich mich in den Sand. Wir lassen uns nicht vertreiben“, sagt der ältere Mann mit strubbeligem Haar und einem verschmitzten Grinsen im Gesicht zu dem Vorhaben. Die Obdachlose Steffi dagegen meint: „Verdrängt zu werden ist immer scheiße. Aber das hat ja auch seinen Grund. Wenn man sich scheiße benimmt, dann darf man sich nicht wundern.“
Wie viel Stoff braucht ein Süchtiger am Tag?
Hannover ist bundesweit eine Hochburg der Cracksüchtigen. Warum ist das eigentlich so – und wo sollen die oft so verelendeten Abhängigen hin? Ein Interview mit Frank Woike, dem Suchtbeauftragten der Stadt Hannover.
Herr Woike, Hannover gilt neben Hamburg und Frankfurt am Main als eine von drei Crack-Hochburgen Deutschlands. Warum?
Das lässt sich nicht genau sagen. Eine Vermutung ist, dass es an den guten Verkehrsanbindungen – auch für Drogentransporte – liegt. Jedenfalls kommen die verschiedensten Drogen hier an.
Welche denn?
Ganz oben rangiert Cannabis. Dann kommen alle Kokain-Drogenarten: von reinem Kokain bis zu Crack. An dritter Stelle Partydrogen: Ecstasy oder MDMA beispielsweise.
Von wie vielen Crackabhängigen sprechen wir in Hannover?
Man kann von 130 bis 150 Menschen ausgehen. Manche sind nur jeden zweiten oder dritten Tag da, weil sie versuchen, sich in der Zwischenzeit zu Hause zu stabilisieren. Auch das begrenzte Geld und die körperliche Belastbarkeit setzen Grenzen. Wie auch bundesweit in westdeutschen Großstädten ist die Zahl der Crack-Abhängigen leider während der Pandemie gestiegen; in Hannover um 30 bis 40 Prozent. Besonders der Frauenanteil ist gewachsen.
Man sieht hinter dem Bahnhof auch abhängige Mädchen, die kaum älter als 18 Jahre alt zu sein scheinen.
Wie setzt sich die Szene zusammen?
Manche sind seit Jahrzehnten abhängig, haben mit Heroin oder anderen illegalen Drogen begonnen und konsumieren mittlerweile vorrangig Crack. Unter den jungen Frauen sind einige, die anschaffen gehen, um ihre Drogen zu finanzieren und zugleich Drogen nehmen, um die Prostitution zu ertragen.
Wie viel Stoff braucht ein Süchtiger am Tag?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche Menschen rauchen täglich, andere ziehen sich zwei, drei Tage raus, wenn sie merken, dass es ihnen ganz schlecht geht. Auch die Art des Konsums hat sich geändert: Die Menschen kaufen zudem häufig gar keinen Stoff mehr, sondern bezahlen pro Zug von der Pfeife.
Die Cracksüchtigen hinter dem Hauptbahnhof wirken oft extrem unruhig. Warum?
Die Menschen sind nicht nur in einer Weise abhängig, wie wir es von Heroin und Alkohol kennen. Sie werden zunehmend psychisch auffällig. Das zeigt sich an einer sehr hohen Reizbarkeit, Aggressivität, einer sehr hohen Empfindlichkeit für Geräusche. Teilweise kommt es auch zu Angst- und Depressionsschüben. Das macht es für die Straßensozialarbeit sehr schwer, an sie heranzukommen.
Mit dem Crackkonsum geht auch eine extreme Verelendung einher, wie man hinter dem Bahnhof erleben kann. Warum?
Es ist nichts wichtiger, als Geld und dann die Droge zu besorgen. Schlafbedürfnis, Sauberkeit, Wäsche wechseln: All das ist vollkommen nebensächlich. Dazu merken die Süchtigen oft gar nicht, wie elend sie drauf sind. Und wenn sie es merken, werden eben wieder Drogen konsumiert. Ungefähr die Hälfte der offenen Szene ist zudem obdachlos. Die Menschen haben kein Zuhause zum Schlafen, zum Duschen mehr. Der Vorplatz Fernroder Straße ist sozusagen ihr Wohnzimmer. Für uns ist das kaum nachvollziehbar. Aber den Süchtigen ist der Platz vertraut. Dort haben sie ihre einzigen sozialen Kontakte. Sie halten sich dort auch außerhalb ihres Konsums auf, weil das der einzige Ort ist, wo sie nicht völlig vereinsamt sind. Sie tun dies, obwohl sie auch unter der hohen Aggressivität der Mitsüchtigen leiden. Die Zahl der Körperdelikte ist sehr hoch. Wobei unsere Erfahrung ist: Alle Gewaltdelikte spielen sich in der Szene ab. Wer dort vorbeigeht, muss also keine Angst haben, dass er verprügelt oder beraubt wird.
Die Stadt will eine Crack-Substitution anbieten, um den Menschen zu helfen. Das wäre bundesweit einmalig. Wie soll das genau funktionieren?
Es gibt im Moment noch kein Patentrezept, das wir übernehmen könnten. Wir brauchen einen medizinischen Zugang zu den Menschen. Die Stadt hat etliche sozialpädagogische Angebote der Suchthilfe. Für jemanden, der vom Heroin wegkommen möchte, haben wir eine Diamorphinambulanz. Wir haben viele Ärzte, die mit Methadon substituieren und den Menschen damit einen Schritt aus dem Elend ermöglichen. Es fehlen jedoch dringend medizinische Angebote für Crack. Hannover hat sich mit anderen Großstädten wie Frankfurt und Hamburg vernetzt und setzt sich gemeinsam beim Bundesdrogenbeauftragten für ein Modellprojekt ein.
Was könnte das sein?
Wir brauchen einen medizinischen Stoff, der ähnlich stimulierend wirkt wie Crack. Außerdem zeigt eine Studie aus Frankfurt: Die Menschen werden durch das Umfeld getriggert. Solange sich Süchtige von der Szene fernhalten, können sie relativ lange abstinent bleiben. Sobald sie zum Hauptbahnhof gehen, sind sie sofort wieder im Sog der Droge. Wir müssen uns also auch gut überlegen: Wo ist so eine Substitution räumlich angesiedelt? Wir erarbeiten derzeit ein dezentrales Konzept, das genau diesen Punkt berücksichtigt.
Wo könnte das sein?
Aktuelle Beispiele der Wohnungslosen- und Suchthilfe zeigen, dass auch dezentrale Angebote funktionieren, wenn es eine gute Anbindung an den ÖPNV gibt.
HAZ vom 12.01.2023, S. 20:
Kirchen versorgen Obdachlose / Spenden und Helfer erwünscht
Von Thore Kessal
Quelle: Wölki
Es gibt Grünkohl mit Bregenwurst und Kartoffeln. Allein der Duft zaubert den Männern und Frauen ein Lächeln auf das Gesicht, während sie in der Schlange auf ihre Portion warten, immer noch in Mantel, Schal und Mütze gekleidet, so wie sie sie den ganzen Tag auf der Straße getragen haben. Geduldig warten sie in der ökumenischen Essensausgabe der evangelisch-reformierten Gemeinde in der Lavesallee – noch bis zum 17. März können Wohnungslose hier täglich von 11.30 bis 13.30 Uhr eine kostenlose warme Mahlzeit bekommen.
Seit mehr als 30 Jahren gibt es das Projekt bereits, das vom Diakonischen Werk Hannover koordiniert wird. Seit Jahresbeginn hat die Ausgabe geöffnet, und so langsam spricht sich das Angebot herum. „In der ersten Woche dieses Jahres waren es am ersten Tag noch 60 Besucher und am Ende der Woche 90“, sagt Hedwig Niederstucke von der katholischen Pfarrgemeinde St. Heinrich. Positiver Nebeneffekt: Die Gäste kennen sich und kommen beim Mittagessen gut ins Gespräch.
Auf diese Gespräche untereinander verweist auch Jamal Keller, aktiv in der zentralen Beratungsstelle des Diakonischen Werkes. „Hier gibt es nicht nur warmes Essen und Getränke, sondern auch warme Worte.“ Dafür seien auch die Ehrenamtlichen vor Ort verantwortlich, welche mit den Besuchern das Gespräch suchen. Dafür ist Keller sehr dankbar. Unterstützt wird das Projekt außerdem von Spendern und zahlreichen Ehrenamtlichen.
So wie Anne Harmanis. „Das ist meine Kirchengemeinde, und die möchte ich gerne unterstützen“, begründet sie ihr Engagement schlicht. Außerdem hoffe sie, „die Welt ein bisschen besser zu machen“. Jamal Keller vom Diakonischen Werk hofft auf weitere Menschen, die sich engagieren wollen. Schon einmal im Monat zu helfen sei ein wichtiger Baustein.
Auch bei den wohnungslosen Männern und Frauen kommt das Angebot gut an. „Ich bin sehr zufrieden, das ist himmlisch, dass es das gibt. Ich hoffe, dass die Essenausgabe jedes Jahr so weitergeht“, zeigt sich einer von ihnen begeistert.