2019
HAZ vom 24.12.2019, S. 7:
Tafeln wollen mehr junge Ehrenamtliche gewinnen
„Die Arbeit macht den Helfern Spaß“, aber derzeit sind nur 2 Prozent von ihnen jünger als 30 Jahre / Immer mehr Rentner kommen zur Essenausgabe
Von Johanna Hering
Göttingen. Die Tafeln in Niedersachsen und Bremen wollen mehr junge Leute als Ehrenamtliche für das Verteilen von Lebensmitteln an Bedürftige gewinnen. Lange Zeit sei eine aktive Suche nach jüngeren Helfern gar nicht notwendig gewesen, sagte Moritz Wiethaup, Geschäftsführer der Tafel Göttingen. „Wir haben aber irgendwann festgestellt, welches Potenzial ohne die jungen Menschen liegen bleibt.“ Die Gruppe Junge Tafel (JuTa) Göttingen existiert seit vier Jahren, sie ist auch in den sozialen Medien aktiv.
Quelle: Pförtner
Die Zahl der Kunden der Tafeln in Niedersachsen und Bremen ist nach Angaben des Landesverbandes zwischen 2018 und 2019 um 10 Prozent gestiegen. 16 000 Frauen und Männer engagieren sich bei den 106 Tafeln in beiden Ländern, 90 Prozent von ihnen ehrenamtlich.
Die Tafeln sammeln bei Produzenten, Lebensmittelhandel oder Veranstaltungen überschüssige, aber noch einwandfreie Lebensmittel ein, die sonst im Müll landen würden. Sie verteilen sie kostenlos oder zu einem symbolischen Betrag an bedürftige Menschen.
Bei einer Mitgliederversammlung vor zwei Monaten hatten die niedersächsischen Tafeln beschlossen, die Jugendarbeit zu stärken. Zurzeit sind nur circa 2 Prozent der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer jünger als 30 Jahre, wie Landeschef Manfred Jabs sagte. Vorreiter für gelingende Jugendarbeit ist Jabs zufolge die Göttinger Tafel. Die Mitglieder der Jungen Tafel Göttingen engagieren sich auch über die Tafel hinaus sozial. Die Gruppe sucht unter anderem gezielt an der Universität nach Helfern.
Alina Seiler engagiert sich seit 2017 ehrenamtlich bei der JuTa. Sie ist zum Studieren nach Göttingen gekommen und schätzt an der Arbeit besonders, dass sie körperlich anpacken kann. „Oft kann man sich gar nicht praktisch einbringen. Bei der Tafel bin ich näher dran, auch im Kontakt mit den Kunden“, sagte sie. Die anderen Mitglieder erleichterten die Eingewöhnung im Team. Die gemischten Altersgruppen bringen nach Ansicht von Aline Seiler neue Ideen. So wurden beispielsweise in diesem Jahr an der Universität Göttingen neben den Geschenken für Kinder, auch für die erwachsenen Tafel-Kunden Geschenke gesammelt.
„Die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung ist traditionell gerade in der Weihnachtszeit sehr hoch“, sagte der Leiter der Hannöverschen Tafel, Horst Gora. In Hannover gebe es zurzeit genügend helfende Hände. „Die Arbeit macht den Helfern Spaß“, betonte er.
Bundesweit versorgen sich rund 1,65 Millionen Menschen bei einer der 940 Tafeln mit Lebensmitteln. Besonders groß sei die Nachfrage bei älteren Menschen, sagte kürzlich der Vorsitzende des Bundesverbandes der Tafeln, Jochen Brühl. Die Zahl der Rentner sei innerhalb eines Jahres um 20 Prozent auf 430 000 gestiegen. Es koste viel Energie, Armut zu verstecken. Diese Kraft hätten ältere Menschen oft nicht mehr – „und kommen dann zu uns“.
Allerdings hätten viele Tafeln auch Angebote für ältere Menschen gestartet, etwa Seniorennachmittage. Dies habe möglicherweise die Hemmschwelle gesenkt und sei auch ein Beitrag gegen Alterseinsamkeit.
90 Prozent der Helfer arbeiten ehrenamtlich. In Niedersachsen und Bremen sind es 16 000 Menschen bei 106 Tafeln. Die Nachfrage steigt: Im vergangenen Jahr kamen 10 Prozent mehr Menschen zu den Tafeln.
HAZ vom 24.12.2019, S. 17:
Stadt räumt Etage von Unterkunft
Brandschutz in der Schlafstelle Alter Flughafen nicht gewährleistet / Frauen und Familien verlegt
Nach einer Sicherheitsüberprüfung hat die Stadt das Obergeschoss der Obdachlosen-Notschlafstelle in einem ehemaligen Baumarkt am Alten Flughafen in Vahrenheide geräumt. Nach Angaben von Ralf Lüdtke vom städtischen Wohnungsamt gab es aus Brandschutzgründen Bedenken, die Etage weiterhin zu belegen. Dort waren bisher Frauen und Familien getrennt von den Männern im Erdgeschoss untergebracht.
Die Räumung trifft die Stadt mitten im Winternotprogramm, mit dem sie in diesem Jahr die Angebote für Obdachlose noch besser organisieren will. Lüdtke sagte im Bauausschuss des Rates, dass die Frauen jetzt in einem besonders abgetrennten und bewachten Bereich des Erdgeschosses untergebracht seien. Die Familien mussten in die Unterkunft Podbielskistraße 115 umziehen. Dort sei jetzt auch eine Notwohnung eingerichtet, um Familien schnell eine Bleibe zu bieten.
Die Gesamtsituation der Obdachlosen-Notunterkünfte stelle sich derzeit noch relativ entspannt dar, berichtete Lüdtke. Bei den Frauen seien 38 von 59 Plätzen frei. Bei den Männern hingegen seien von 168 Plätzen nur noch 30 nicht belegt. „Wir glauben nicht, dass das in den nächsten Tagen und Wochen reicht“, sagt Lüdtke. Die Stadt habe daher in der Obdachlosenunterkunft Ahlemer Holz 30 Plätze in Notschlafstellen umgewandelt, um kurzfristig reagieren zu können. Damit gebe es jetzt 198 Notschlafplätze für Männer.
Abgesehen von den Notplätzen, die in der Regel nur für wenige Nächte genutzt werden, sind aktuell 1334 Obdachlose in städtischen Einrichtungen untergebracht. Bei den Flüchtlingen ist die Zahl wie in den vergangenen Monaten relativ konstant. Aktuell leben den Angaben zufolge 4012 Flüchtlinge in städtischen Einrichtungen.
HAZ vom 24.12.2019, S. 30:
Endstation Straße: So viele Obdachlose wie nie in New York
Die US-Metropole ist nur für Reiche ein guter Platz zum Leben –
Trotz Arbeit können sich die Menschen die horrenden Mieten nicht leisten
Von Sebastian Moll
Quelle: Tayfun Coskun/imago images
New York. Arena Walker ist Aushilfslehrerin an einer Schule in Harlem, sie arbeitet 35 Stunden die Woche. Nach der Arbeit fährt sie mehr als eine Stunde zurück nach Brooklyn, um sich um ihre beiden Töchter – acht und zwölf Jahre alt – zu kümmern. Ihr Verdienst reicht nicht aus, um sich in New York eine Wohnung leisten zu können. Die Familie lebt seit vier Jahren in einer Obdachlosenunterkunft, einem Zimmer mit undichten Fenstern, Ratten auf dem Flur und nur gelegentlich warmem Wasser. Eine Aussicht auf eine feste Bleibe hat sie auf dem Wohnungsmarkt nicht.
Arena Walker ist eine von 60 000 Obdachlosen in der Stadt New York. Schätzungen der Bundesregierung, die Unterkünfte für misshandelte Frauen und Waisenkinder mit einbeziehen, gehen sogar von 78 000 aus. So viele Wohnungslose hat es in New Yorks Geschichte noch nie gegeben. Allein seit 2013 ist die Zahl der Wohnungslosen um 20 Prozent gestiegen.
Dabei geht es der Stadt so gut wie nie. Wohntürme mit Luxusappartements für zwei- bis dreistellige Millionenbeträge schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Anzahl von Mietwohnungen, die mindestens 2000 Dollar pro Monat kosten, steigt stetig. Laut einem Bericht der Interessenvertretung Coalition for the Homeless stehen 7 Prozent davon leer.
Die Anzahl der Wohnungen, die 800 Dollar oder weniger kosten, ist derweil seit 1999 von 1,4 Millionen auf 307 000 gesunken. Dagegen stehen 900 000 Haushalte, die unter der Armutsgrenze leben. Die mittlere Miete in New York ist seit 2000 um 19 Prozent gestiegen, die mittleren Einkommen sind um 6,3 Prozent gefallen. Entsprechend sind immer mehr Familien und Singles obdachlos, obwohl sie arbeiten.
Die Krise ist nicht bloß die Folge einer gnadenlosen Marktwirtschaft. Sie ist auch die Folge einer über viele Jahre hinweg gescheiterten Politik.
Zwischen 1965 und dem Ende der 70er-Jahre explodierte die Zahl der Obdachlosen. Ein Auslöser für diese Entwicklung war, dass der Staat New York mehr als 100 000 psychisch kranke Menschen aus staatlichen Einrichtungen entlassen hatte, um Geld zu sparen. Mindestens ein Drittel davon landete auf den Straßen. In jener Zeit entstand das heutige System an Notunterkünften, das von Anfang an mit Problemen zu kämpfen hatte. Die Obdachlosen meiden die Unterkünfte, weil sie schmutzig und gefährlich sind – zudem schreckt die Bürokratie viele ab, hier zu übernachten. Hinzu kam, dass eine Reihe sogenannter Single Room Occupancy Hotels schlossen – Hotels, wo alleinstehende Männer mit niedrigem Einkommen ein Zimmer mieten konnten.
Bürgermeister Ed Koch, der bis 1989 im Amt war, setzte deshalb darauf, den Obdachlosen eine dauerhafte Bleibe zu bieten. Er wandelte gepfändete Gebäude in Wohnraum für Arme um. Doch in den 90er-Jahren, als es mit der Stadt aufwärtsging und Wohnraum teuer wurde, kollabierte dieses System wieder.
Als 2002 der konservative Bürgermeister Michael Bloomberg an die Macht kam, war das Problem so schlimm wie nie. Bloomberg kündigte an, mit einem Maßnahmenpaket das Obdachlosenproblem zu lösen. Doch er machte es in seinen zwölf Jahren im Amt nur schlimmer, weil er Obdachlosigkeit als individuelles Versagen einstufte. So beendete er die Bevorzugung von Obdachlosen bei der Vergabe von gefördertem Wohnraum.
Wie Bloomberg trat sein Nachfolger Bill de Blasio 2012 mit großen Ambitionen an. Doch obwohl er mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr ausgibt, hat er es nicht geschafft, bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit nennenswerte Fortschritte zu machen.
HAZ vom 05.12.2019, S. 16:
„Projekt gescheitert“: Stadt will weitere „Little Homes“ räumen
Die beiden Mini-Unterkünfte für Obdachlose stehen rechtswidrig auf öffentlichen Flächen – die Nutzer wohnen aber auch gar nicht mehr darin
Von Jutta Rinas
Hannover. Das bundesweit mit vielen Vorschusslorbeeren gestartete Projekt der sogenannten „Little Homes“ steht in Hannover vor dem Scheitern. Vier Mini-Hütten für Obdachlose gibt es derzeit in der Stadt. Die spendenfinanzierten Häuschen, die von Ehrenamtlichen aufgebaut werden, sollen auf der Straße lebenden Menschen ohne jede Verpflichtung ein Dach über dem Kopf bieten. Aber nur in einem Fall hat das bislang dauerhaft geklappt – und nun nutzen einige der Obdachlosen ihre eigenen Häuschen schon gar nicht mehr.
Quelle: Behrens
Ein „Little Home“ in Ricklingen ließ die Stadt nach monatelangem Streit Anfang Oktober zwangsweise räumen, weil es rechtswidrig auf einer öffentlichen Straße stand und die Bewohnerin sich weigerte, auf eine private Stellfläche umzuziehen. Jetzt – Anfang Dezember – stehen offenbar zwei weitere Räumungen an. Diese „Little Homes“ befinden sich unter dem Bremer Damm. Auch sie stünden auf öffentlichen Flächen, auf denen das Aufstellen von „Little Homes“ nicht zulässig sei, heißt es vonseiten der Stadt. Die Verwaltung setzt mit ihrer Androhung einer Räumung eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts um. Die Obdachlose aus Ricklingen hatte vergeblich versucht, sich gerichtlich gegen die Räumung ihres „Little Homes“ zu wehren. Ihr Häuschen ist jetzt eingelagert auf einem städtischen Betriebshof.
Dorthin werden vermutlich auch die beiden anderen Häuschen kommen. Bemerkenswert ist: Nach Angaben von „Little Home“-Gründer Sven Lüdecke wohnen die Obdachlosen, denen sie per Schenkung übereignet wurden, gar nicht mehr darin. Beide machen die Schenkung aber nicht rückgängig, treten ihr Eigentum nicht wieder an den Verein „Little Home“ ab. „Ohne die Rückübertragung können die ,Little Homes’ nicht für andere Obdachlose verwendet werden“, sagt Lüdecke bitter. „Es wird Winter, die Leute frieren, und wir können niemandem helfen“. Speziell in Hannover hatte es von Anfang an Kritik von Wohlfahrtsverbänden an den „Little Homes“ gegeben. Die Minihäuser seien „Hundehütten“, hieß es.
In einem Fall schlafe der Obdachlose mittlerweile am Steintor, sagt Lüdecke weiter. Er weigere sich aber, es ganz aufzugeben. Zwingen könne man ihn nicht. Im zweiten Fall sei eine obdachlose Frau bei ihrer Tochter untergekommen. Auch sie müsse schriftlich einer Rückübertragung zustimmen, sei aber zurzeit nicht erreichbar. Der Stadt sind die Eigentümer nicht bekannt. Deshalb habe man beiden Häusern mittlerweile öffentlich Anhörung und Beseitigungsverfügung zugestellt, sagt eine Stadtsprecherin. Der Verein „Little Home“ sei nach Ablauf der Anhörungsfristen aufgefordert worden mitzuteilen, ob das Eigentum zurück übertragen wurde. Geschehe dies nicht, würden die Häuser „per Ersatzvornahme“ entfernt und auf einem städtischen Betriebshof verwahrt.
Auch im Fall einer Rückgabe der Mini-Häuser hätte Hannover aber vermutlich nicht mehr profitiert. Eines sei schon fest für Hamburg geplant gewesen, auch das andere habe er nicht mehr in Hannover aufstellen wollen, sagt Lüdecke. Die Spendenbereitschaft in Hannover sei nach dem monatelangen Gezerre um das „Little Home“ der Obdachlosen in Ricklingen deutlich zurückgegangen. Auch einen Obdachlosen zu finden, der einziehen wolle, sei nach dem ganzen Ärger eigentlich unmöglich geworden. „Im Grunde sind wir in Hannover gescheitert“, sagt Lüdecke.
HAZ vom 27.11.2019, S. 20:
Wohnungslose machen Dreck weg
Mit dem Projekt der Diakonie sollen die Obdachlosen eine Tagesstruktur bekommen und gesehen werden
Von Susanna Bauch
Das Klischee kennt jeder: Wohnungslose Menschen verursachen Dreck. Wenn sie sich mit ihrem Hab und Gut draußen aufhalten, wenn sie zusammensitzen, wenn sie dort essen und vor allem trinken. Bei dem Projekt „Geh deinen Weg“ vom Ruhe- und Rückzugsraum Kompass des Diakonisches Werkes arbeiten die Menschen ohne Bleibe jetzt buchstäblich gegen dieses Klischee an: Sie sammeln zweimal pro Woche im Bereich Hauptbahnhof, Raschplatz und Weißekreuzplatz Müll auf – und Passanten sowie vor allem Anlieger sehen das gerne.
Mit schwarz-blauer Arbeitskleidung und zwei 80-Liter-Tonnen mit dem Kompass-Logo machen sich Damian, Catalyn, Kyril und Sergio auf, um zwischen Bänken, Fahrradständern und auf grünen Streifen sowie am Straßenrand mit langen Greifzangen das aufzusammeln, was andere Bürger achtlos fallen gelassen haben. „Innerhalb einer Stunde sind die Tonnen voll“, betonen Juri Sladkov und Marvin Ahlburg, die als Sozialarbeiter in der Einrichtung arbeiten und das Projekt auf der Straße begleiten. Rund 1400 Liter Müll haben die Männer aus dem Kompass seit Projektstart im Oktober bereits eingesammelt.
Mit dem Einsatz soll nicht unbedingt dem Abfallwirtschaftsbetrieb Aha Konkurrenz gemacht werden, vielmehr will die Diakonie Menschen, die in besonderen sozialen Schwierigkeiten sind und keinen Anspruch auf Leistungen haben, eine Tagesstruktur und ein wenig Selbstwertgefühl geben. „Als wir im Oktober angefangen haben, wollten gleich ganz viele mitmachen“, sagt Ahlburg. Catalyn hat zu denen gehört, die auf der langen Holzbank hinter dem Bahnhof sitzen, als der erste Trupp Müllsammler vorbeigekommen ist. Der Rumäne ist spontan aufgestanden und hat mitgesammelt – jetzt gehört er zum Team.
Es gibt auch so etwas wie eine Aufwandsentschädigung für die Arbeit an den blauen Tonnen. Mit bis zu sechs Euro pro Stunde Einsatz können die Männer, die meist aus Osteuropa stammen, rechnen. „Für jemanden, der sonst mit Pfandbeträgen auskommen muss, ist das schon etwas“, so Sozialarbeiter Sladkov. Die Menschen aus dem Kompass sollen zudem eine Perspektive für ihren Tag bekommen. „Das Projekt hat Modellcharakter“, erklärt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Menschen ohne Ansprüche in Deutschland würden eine regelmäßige Aufgabe bekommen, täten etwas für die Allgemeinheit und würden von der Stadtgesellschaft (anders) wahrgenommen. „Es ist auch eine Aktion gegen die Vorurteile. Obdachlose machen nicht nur Dreck, sie machen ihn auch weg“, so Müller-Brandes.
Blitzblank putzen die Männer das Areal rund um den Bahnhof nicht, „aber die Aktion hat auch Symbolcharakter“, sagt Sladkov. Viele Besucher aus dem Kompass hätten eine Ausbildung, fühlten sich aber nutzlos in Deutschland ohne Arbeit. „Damian etwa ist Klempner, und als wir hier ein technisches Problem hatten, hat er es beheben können.“ Eine perfekte Lösung für alle Beteiligten.
HAZ vom 22.11.2019, S. 20:
Obdachlose: Unterkünfte nahezu voll
Noch Plätze in Notschlafstellen frei
Von Conrad von Meding
Der Winter hat noch nicht richtig begonnen, da sind die Unterkunftsplätze für Obdachlose in der Stadt Hannover schon zu etwa 90 Prozent belegt. 1328 Menschen lebten derzeit wegen Wohnungslosigkeit in regulären Unterkünften, sagte Ralf Lüdtke vom städtischen Wohnungsamt jetzt im Bauausschuss. 120 Plätze seien noch frei. Hinzu kämen 110 freie Plätze in den Notschlafstellen, die nicht für dauerhafte Übernachtungen eingerichtet sind. Dort schlafen aktuell etwa 100 Personen pro Nacht, sie sind also fast zur Hälfte belegt.
Die Stadt hat auf Drängen der Ratspolitik ihr Winternotprogramm ausgebaut. Unter anderem wurden die Öffnungszeiten erweitert, der Shuttlebus fährt jetzt schon ab Herbst, erstmals sind auch Hunde in einer Unterkunft erlaubt. Dreimal sei davon Gebrauch gemacht worden, sagte Lüdtke, es habe keine Probleme gegeben.
Bei der Unterbringung von Flüchtlingen stellt sich die Stadt auf konstante Zahlen ein. Derzeit sind 3964 Geflüchtete in der Stadt untergebracht. Die Zahl ist seit anderthalb Jahren etwa konstant. Jeden Monat verließen etwa 70 die Unterkünfte, weil sie heimreisten oder eigene Wohnungen fänden, sagt Lüdtke. Regelmäßig würden ebenso viele vom Land neu zugewiesen.
HAZ vom 16.11.2019, S. 21:
„Ich will meine Wohnung, meine Ehre zurück“
Nach Zwangsräumung: 81-jährige Obdachlose lebt seit mehr als zwei Jahren im Auto – gegenüber ihrer alten Wohnung
Von Jutta Rinas
Auf dem Foto in ihrem Personalausweis sieht man noch, wer sie früher einmal war: Ingrid P., Finanzbuchhalterin, eine ältere Dame mit gepflegtem Kurzhaarschnitt und einem feinen Tuch um den Hals. Feine Halstücher trägt die 81-Jährige immer noch. Aber die Farben sind von der Witterung gebleicht. Tiefe Sorgenfalten haben sich in ihr Gesicht eingegraben. Die einst so strahlenden Augen wirken müde, die Haare stumpf.
Ingrid P. hat ihre Wohnung 2017 nach 60 Jahren durch eine Zwangsräumung verloren. Seitdem lebt sie in ihrem Auto, einem Renault Clio, auf einem Parkplatz in der Nähe des Hauptbahnhofes, direkt gegenüber ihrer alten Wohnung. All ihre verbliebenen Habseligkeiten hat sie in dem kleinen Wagen untergebracht. Den dicken Mantel hat sie auf den Rücksitz gepackt, ordentlich gefaltet wie ihre Jacke oder das hellblau gepunktete Tuch. In der Seitenklappe des Wagens liegt ein Beutel mit Münzen griffbereit. Sogar ein Paar Schuhüberzieher hat Ingrid P. im Fußraum deponiert. Die hochbetagte Dame befindet sich in einer Art Schockstarre, in stummem Protest gegen das Unrecht, das man ihr aus ihrer Sicht antat, ein Unrecht, das sie nie verwunden hat.
Täglich beobachtet sie die Fenster ihrer einstigen Wohnung, setzt sich dafür der Kälte und Gefahren für Leib und Leben aus. „Meine Wohnung war eine Puppenstube“, wieder und wieder sagt sie das, wenn man mit ihr durch die heruntergelassene Autofensterscheibe spricht. „Ich tue niemandem etwas. Ich will nur meine Wohnung, meine Ehre zurück“, betont sie. „Meine Wohnung ist schließlich mein Zuhause.“
Quelle: Kutter
Schlimm ist: Die Frau, die viele Jahrzehnte ihrem Beruf nachging, könnte sich von ihrer Rente wohl eine neue Wohnung leisten. Aber sie ist derzeit nicht fähig zu einem Neuanfang. Geradezu tragisch ist: Ihrem Anwalt Marcus Bartscht zufolge ist die alte Dame unschuldig Opfer einer kaltherzigen Behördenmaschinerie geworden – ein Drama mit kafkaesken Zügen. Das verwindet sie nicht.
Dabei ging es ursprünglich nur um eine Rechnung von 49,86 Euro. Ingrid P. will nicht zahlen, weil der neue Eigentümer des Mietshauses ihr aus ihrer Sicht höhere Beträge schuldet. Der Streit um Nebenkostenabrechnungen, Reparaturen, vermeintliche Mietschulden geht bis vors Amtsgericht. Der heutige Verwalter will sich aus Datenschutzgründen nicht äußern. P.s Fehler ist, so Bartscht, dass die alleinstehende Frau sich anfangs nicht anwaltlich vertreten lässt, sondern selbst einarbeitet.
Ihre Schriftsätze zeugen von Akkuratesse – die ehemalige Finanzbuchhalterin jongliert sogar mit BGH-Urteilen. Zum Verhängnis wird ihr, dass sie auch merkwürdige Sätze schreibt. Die Namensschilder und Wohnungsklingeln würden zwischenzeitlich weggenommen, sodass sie für niemanden erreichbar sei. Von einem Bordell im Haus ist die Rede, davon, dass „zu jeder Tages- und Nachtzeit Personen rumschleichen, die, (...) blitzartig in der (...) Wohnung verschwinden, man hat keine Gelegenheit, die Gesichter zu sehen.“
Das Gericht irritiert diese Ausführungen so sehr, dass es sogar prüfen lässt, ob die alte Dame einen gesetzlichen Vormund braucht. P. bekommt im Juni 2016 völlig unvermittelt ein Schreiben, dass sie persönlich aufgesucht werden soll. Sie lehnt telefonisch aufgebracht ab: Sie sei bei klarem Verstand, könne ihre Angelegenheiten selbstständig regeln. Dennoch macht ein Psychiater einen unangemeldeten Hausbesuch. Er findet an P.s Haustür ein DIN-A4-Blatt mit dem Hinweis, ihre Klingel sei defekt. Man wolle ihr die Wohnung streitig machen, um dort ein Bordell einzurichten. Auch später, bei einer zufälligen Begegnung vor dem Haus betont sie das, so schreibt der Mann es, spürbar ungläubig, im Juli 2016 in seinen Bericht.
Obwohl der Psychiater nicht ein einziges Mal ihre Wohnung betritt, fällt er eine verheerende Diagnose: isolierte paranoide Symptomatik. P.s Versuche, die Betreuung zu verhindern, die Tatsache, dass sie sich schließlich allem verweigert, werden ab jetzt als Teil einer psychischen Erkrankung interpretiert. Inzwischen geht der ursprüngliche Rechtsstreit weiter. Der Streitwert ist auf rund 3000 Euro gestiegen. Der Eigentümer, eine Berliner Immobilienfirma, hat wegen Mietschulden auf Räumung geklagt. P. kommt nicht zur mündlichen Verhandlung. Niemanden interessiert, warum eigentlich nicht. Und so ergeht der Beschluss zur Zwangsräumung einer Wohnung, in der eine alte Frau 60 Jahre lang lebte, Anfang Dezember 2016 in einem Versäumnisurteil, einem also, das in Abwesenheit des Beklagten gefällt wird und allein auf dem Vortrag des Klägers beruht.
Aber es kommt noch schlimmer: Denn der Kommunale Senioren Service der Stadt bittet den Psychiater jetzt dringend um eine Einschätzung, ob ein Betreuer nötig ist, weil „akute Wohnungslosigkeit droht“. „Leider kann ich keinen aktuellen Befund liefern“, schreibt der Mann, nachdem er P. bei einem Hausbesuch nicht antrifft. Schon zuvor hat er – vier Tage vor Weihnachten – auf seine „aktuell begrenzten Zeitkapazitäten“ verwiesen. Die Monate zuvor diagnostizierte Erkrankung lasse aber „nahezu mit Sicherheit“ vermuten, dass sich nichts geändert habe. Ein Vormund für Rechts-, Antrags-, Behörden- und Wohnungsangelegenheiten und Vermögenssorge sei dringend angeraten. P. verliert nicht nur ihre Wohnung, sie wird auch noch entmündigt.
Allerdings: Die alte Dame ist mitnichten geistig verwirrt. Sie hat, so Bartscht, mit ihren merkwürdigen Schilderungen völlig recht. Es ist purer Zufall, aber für P. ein Geschenk des Himmels, dass der Anwalt ihr Haus aus anderen Rechtsstreitigkeiten kennt. Von der inzwischen wohnungslosen Frau im März 2017 beauftragt, die Betreuung aufzuheben, schreibt er an das Gericht, er wisse aus anderen Verfahren, dass in dem Haus „seit mehreren Jahren teilweise versteckt, teilweise offiziell Wohnungsprostitution betrieben“ werde. Ebenfalls sei ihm bekannt, dass „regelmäßig Post, die vermeintlich im Briefkasten eingeworfen worden sein soll, verschwindet, und (...) rund um die Uhr potenzielle Freier anzutreffen sind“.
Bartscht ist überzeugt, dass P. Fristen versäumt und Verhandlungstermine nicht wahrgenommen hat, weil sie wichtige Schreiben des Amtsgerichts tatsächlich nicht erhalten hat. Die Zwangsräumung kann er nicht mehr rückgängig machen. Aber die Betreuung? Drei Monate lässt sich das Gericht mit der Antwort Zeit. Man habe sich „um eine fachärztliche Stellungnahme bemüht“, teilt es dann lapidar mit: „Leider bislang ohne Erfolg.“ Da die Betreuung aber sowieso nur vorläufig eingerichtet worden sei, ende sie hiermit wie vereinbart Ende Juni 2017. Die angeblich so schwer verwirrte Frau darf sich plötzlich, ohne dass jemand sie noch einmal begutachtet hätte, wieder selbst um sich kümmern: um ein Leben, das mittlerweile im Auto auf der Straße spielt. Sogar die Betreuung muss sie zahlen: 1122 Euro, sagt Bartscht.
Wie lebt sie jetzt? Wie kommt es, dass sie, die anfangs in Hotels übernachtete, jetzt im Auto wohnt? Immer wieder habe sie mit den verbliebenen Sachen zwischen Auto und Hotel gependelt, erzählt sie durch die Autofensterscheibe. Irgendwann sei sie einmal im Auto eingeschlafen, das sei so entspannt gewesen, da sei sie geblieben. Wenn man länger mit der 81-Jährigen spricht, ist unüberhörbar, dass es mittlerweile Risse in ihrer Seele gibt. Vieles klingt unsortiert, bruchstückhaft, durcheinander. Tatsächlich lässt es sich aber, wenn man die Fakten kennt, erstaunlich klar zu einem Ganzen zusammensetzen. Auch ihren Alltag hat die alte Dame gut im Griff. Morgens um 6 Uhr geht sie im Bahnhof duschen, dann frühstückt sie. Ein Becher Kaffee, ein Käsebrötchen, ohne Butter: „Ich bin ja Diabetikerin.“
Nachmittags und nachts im Auto schläft sie viel. Hat sie keine Angst? Sie sei schon häufiger überfallen worden, aber ihr sei nie etwas passiert, sagt sie: „Jammern nützt ja nichts.“ Ein Polizeisprecher bestätigt, dass die alte Dame mehrfach Überfälle angezeigt habe, sich bei Nachfragen aber immer in Widersprüche verstricke. Man habe ihr viele Hilfsmöglichkeiten angeboten, schaue auf Streife unregelmäßig nach ihr. Sie lehne jede Hilfe ab. Parken zumindest darf sie auf dem Platz, weil ihr Auto ordnungsgemäß zugelassen ist. Auch bei der Stadt ist die 81-jährige P. bekannt. Auskünfte zu sozialarbeiterischen Kontakten dürften im Einzelfall aber nicht gegeben werden.
Fühlt sie sich obdachlos? Nein! Es quält sie nur, dass ihre Familie sich aus Scham von ihr abgewandt hat. Sicher, manchmal, wenn sie sich so früh am Morgen durch den Bahnhof bewege, käme sie sich unter all den anderen Obdachlosen schon merkwürdig vor, räumt P. dann ein: „Ich lebe aber nicht auf der Straße, sondern im Auto.“
Warum kann man nicht helfen?
Frau Pold, Sie leiten den Tagestreff für Obdachlose der Caritas. Warum nehmen manche Wohnungslose wie Ingrid P. trotz großer Notlage keine Hilfsangebote an?
Da muss man differenzieren. Wir sprechen hier von obdachlosen Frauen. Männer sind seltenst Einzelgänger, sie finden sich schnell in Gruppen zusammen, machen gemeinsam Platte, helfen sich. Frauen verbergen ihre Obdachlosigkeit aus Scham viel länger, auch dann, wenn sie lange in prekären Verhältnissen leben. Sie halten sich tagsüber oft an warmen öffentlichen Orten auf, in Bibliotheken, im Rathaus. Oft sieht man ihnen ihren Status gar nicht an. Nachts schlüpfen sie bei Freunden, Bekannten unter, oft gegen sexuelle Dienste, auch wenn sie das meist vehement abstreiten.
Ingrid P. könnte, so scheint es jedenfalls, theoretisch ihr Auto verlassen und in eine neue Wohnung ziehen. Warum tut sie das nicht?
Sie hat in ihrem Auto offenbar einen geschützten Raum gefunden, einen letzten, privaten Zufluchtsort, der sie noch mit ihrer Vergangenheit verbindet. Sie kann sich dort in ihre alte Welt fliehen, hat Erinnerungsstücke, Schätze aus der Vergangenheit, um sich. Das gibt ihr offenbar Halt.
Wie lange kann man dieses Leben draußen, im Auto, auf der Straße, durchhalten, ohne psychischen Schaden zu nehmen?
Menschen, die zu Beginn ihrer Obdachlosigkeit noch zugänglich waren, können schwere psychische Störungen entwickeln, bis hin zum Verfolgungswahn. Sie können nicht vernünftig schlafen, sind ständig im Stress, in Habachtstellung aus Furcht vor Angriffen. Das macht sie krank – und die Rückkehr in ein normales Leben schwerer.
Wie kann man dennoch helfen?
Man muss manchmal akzeptieren, dass Menschen keine Hilfe möchten. Manchmal kennt man jemanden, der krank ist und nicht zum Arzt geht, das gesteht man ihm auch zu. Wenn man einen Obdachlosen in seiner Nähe entdeckt, sollte man schauen, ob es ihm gut geht – und bei einer hilflosen Person lieber einmal zu viel als einmal zu wenig die 112 wählen. Man kann auch die 168-0 anrufen und sich mit einem Streetworker der Stadt verbinden lassen, um zu erreichen, dass dieser auf seinen regelmäßigen Touren nach der obdachlosen Person sieht. Das Schlimmste wäre, nichts zu tun.
Interview: Jutta Rinas
HAZ vom 13.11.2019, S. 8:
Mehr Wohnungslose suchen Anlaufstellen auf
Wenn der Winter kommt, wird es für Menschen auf der Straße besonders hart. Wie viele landesweit betroffen sind, ist unklar.
Von Christina Sticht
Hannover. Die Zahl der Wohnungslosen in Niedersachsen ist nach dem Eindruck der Beratungsstellen im Land gestiegen. „Es kommen mehr Menschen in unsere Einrichtungen“, sagte Ulrich Friedrichs, Geschäftsführer der Zentralen Beratungsstelle Niedersachsen. Frauen machen laut Friedrichs mittlerweile ein Viertel der Besucher in sogenannten Tagesaufenthalten aus, wo sich Menschen aufwärmen, etwas essen oder duschen können. Der Verlust der eigenen Wohnung habe häufig mehrere Ursachen, sagte der Experte von der Caritas Osnabrück, zum Beispiel die Trennung vom Partner, Krankheit, Jobverlust oder Überschuldung.
Bundesweit stieg die Zahl im vergangenen Jahr auf geschätzte 678 000 Menschen ohne Wohnung , wie die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe mitteilte. Etwa 41 000 Männer und Frauen lebten 2018 komplett auf der Straße. Die BAG hofft auf ein Gesetz zur Wohnungslosenberichterstattung. Einige Länder wie Nordrhein-Westfalen hätten bereits eine solche Statistik, Niedersachsen aber nicht, sagte Sabine Bösing, stellvertretende Geschäftsführerin der BAG.
In Niedersachsen gibt es laut Sozialministerium ein flächendeckendes Angebot von ambulanten Hilfen für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten, zu denen 54 Beratungsstellen, 34 Tagesaufenthalte und 1300 Plätze in stationären Einrichtungen zählen. In diesem Jahr wende das Land dafür mehr als 33 Millionen Euro auf. Beispielsweise sei im August in Braunschweig von der Diakonie eine neue Beratungsstelle nur für Frauen eröffnet worden.
Hannover hat ein Winternotprogramm in Kraft gesetzt. Es ermöglicht Obdachlosen, auch ohne Anmeldungen Notschlafstellen aufzusuchen, außerdem wurde ein Busshuttle zur größten Notschlafstelle eingerichtet. Hinzu kommt laut Stadtsprecherin Michaela Steigerwald ein neues Projekt, bei dem Menschen gemeinsam mit ihren Hunden untergebracht werden.
In Hannover sind derzeit 1328 Menschen in Unterkünften für Wohnungslose untergebracht, 2017 waren es noch 1165. Hinzu kommen 1045 Menschen in Flüchtlingsunterkünften. Vor allem anerkannte Asylbewerber finden oft keine eigene Bleibe. Sie hätten oftmals Probleme, eine Wohnung zu finden, und würden deshalb weiterhin von der Stadt untergebracht, sagte die Stadtsprecherin. Bundesweit sind nach Schätzung der BAG sogar 65 Prozent der Wohnungslosen anerkannte Asylbewerber. Die Arbeitsgemeinschaft kritisiert, dass der Verbleib in den Flüchtlingsheimen die Integration erschwere.
„Es fehlt bezahlbarer Wohnraum für Alleinstehende sowie für Familien“, betonte Friedrichs von der Zentralen Beratungsstelle. Oft spiele Krankheit beim Verlust der Wohnung eine Rolle. Wer zum Beispiel ausziehen müsse, weil er keine Treppen mehr steigen könne, finde keine barrierefreie, günstige Wohnung. Landesweit gibt es nur wenige spezielle Krankenwohnungen für Wohnungslose.
Nach Friedrichs’ Beobachtung finden 80 Prozent nach einiger Zeit wieder eine Wohnung – meist gelingt dies auf dem angespannten Wohnungsmarkt aber nur mit Unterstützung. Caritas und Diakonie mieten vermehrt selbst Wohnungen an, um sie an Menschen unterzuvermieten, die vorübergehend auf der Straße gelebt haben.
Quelle: Philipp Schulze
HAZ vom 13.11.2019, S. 17
Essensausgabe findet neue Heimat
Ökumenisches Projekt hilft Wohnungslosen
Lange hatten die Betreiber vergeblich nach neuen Räumlichkeiten gesucht. Jetzt sind sie fündig geworden: Die Ökumenische Essensausgabe für Wohnungslose wird vom 2. Januar an im Gemeindesaal der reformierten Kirchengemeinde an der Lavesallee 4 untergebracht sein. „Ich freue mich sehr, dass wir für dieses spendenfinanzierte Projekt einen guten kirchlichen Raum gefunden haben“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes.
Bislang war die Essensausgabe, in der Bedürftige in den Wintermonaten ein warmes Mittagessen bekommen können, in den Räumen der Heilsarmee am Marstall untergebracht. Der Bedarf ist jedoch kontinuierlich gestiegen. Binnen zehn Jahren hat sich die Zahl der ausgegebenen Mahlzeiten verdoppelt. Die angestammten Räume waren daher zu klein geworden. „An Spitzentagen warten bis zu 300 Menschen, um eine warme Mahlzeit zu bekommen“, sagt Müller-Brandes. Immer mehr Menschen aus Osteuropa nehmen das Angebot in Anspruch. Zudem kommen verstärkt auch ältere Menschen.
HAZ vom 05.11.2019, S. 18:
Initiative baut bis Ende 2020 ein Zuhause für Obdachlose
Zunächst geht es um ein Dach über dem Kopf, dann um die Lösung weiterer Probleme: Pilotprojekt mit 15 Wohnungen kommt nach Vahrenwald
Von Jutta Rinas
Hannover. Für Obdachlose gibt es 15 neue Wohnungen in Vahrenwald – in Hannover nimmt ein weiteres Projekt im Kampf gegen die Wohnungslosigkeit Gestalt an. Unter der Federführung der hannoverschen Stiftung Ein Zuhause entsteht auf einem städtischen Grundstück im Karl-Imhoff-Weg ein mehrstöckiger Neubau mit 15 Ein- und Zweizimmerwohnungen, ein wissenschaftlich begleitetes Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit der Stadt. „Wenn alles nach Plan läuft, können die ersten Mieter Weihnachten 2020 einziehen“, sagt Eckart Güldenberg, Sprecher der Stiftung. „Wohnungslose, die normalerweise auf dem Wohnungsmarkt immer am Ende der Schlange stehen, kommen hier endlich nach vorne“, betonen auch Andreas Sonnenberg vom Werkheim e.V. und Jürgen Schabram von der Sozialen Wohnraumhilfe. Beide haben die Stiftung gemeinsam mit der Dachstiftung Diakonie gegründet.
Quelle: Heusel
Das Besondere an dem neuen Projekt ist: Die Vermietung verläuft nach dem Housing-First-Prinzip. Das heißt: Man gibt den zuvor Obdachlosen ein Dach über dem Kopf, bevor man sich um anderes kümmert: Drogen- oder Suchtprobleme, Langzeitarbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen.
In anderen Städten ist dieser Ansatz erfolgreich. In Hannover hat die evangelische Landeskirche deshalb ein Mini-Modulhaus (Tiny House) gebaut. Vom Verein Little Home stammt eine spartanischere Variante, die in Hannover unlängst für viel Wirbel sorgte. Eine obdachlose Frau weigerte sich, mit ihrem Little Home ihren rechtswidrigen Standort, einen Parkplatz vor einem Kirchengrundstück in Ricklingen, zu räumen. Ein Gericht entschied, dass sie weichen muss.
Das Grundstück am Karl-Imhoff-Weg, auf dem die Stiftung mithilfe des Architekturbüros Mosaik jetzt für Obdachlose bauen will, war von der Stadt zunächst als Flüchtlings-, dann als Obdachlosenunterkunft vorgesehen. Der Bezirksrat Vahrenwald-List hatte sich gewehrt, da es in dieser Gegend schon viele Sozialwohnungen gebe. Problematisch ist jetzt noch: Obwohl der Bauantrag seit Monaten beim Bauamt liegt, fehlt die Bewilligung. „Ein Ärgernis“, sagt Güldenberg, der zeitliche Verzug verteure das Projekt: „Inzwischen sind die Gesamtkosten auf 2,6 Millionen Euro gestiegen – ursprünglich waren es 400 000 Euro weniger.“ Trotzdem rechnet Güldenberg damit, dass die ersten Arbeiten im Januar beginnen können.
Die Stiftung soll das Grundstück in Erbpacht erhalten, der auf 30 Jahre laufende Erbbauvertrag soll im Dezember unterzeichnet werden. Zwölf Ein- und drei Zweizimmerwohnungen mit einer Durchschnittsgröße von 35 Quadratmetern sollen auf dem bislang wild überwucherten Gelände in direkter Nachbarschaft einer Kindertagesstätte und eines Seniorenheims entstehen. In den größeren Wohnungen sollen Mütter mit ihren Kindern unterkommen.
Die Kaltmiete soll etwa 5,80 Euro pro Quadratmeter betragen. „Wir wollten einen fairen Preis und würdige Wohnverhältnisse haben“, sagt Güldenberg. Der Neubau am Karl-Imhoff-Weg soll überdies der Beginn einer Erfolgsgeschichte werden. Das Grundstück sei mit seinen fast 1400 Quadratmetern groß genug für weitere Neubauten, sagt er. „Dafür sind wir weiter auf großzügige Spenden angewiesen.“
Fachleute: In Niedersachsen fehlen 100 000 Wohnungen
(jr). Bei einem sogenannten alternativen Wohngipfel für Niedersachsen haben Vertreter der Landesarmutskonferenz von der Landespolitik nachdrücklich eine andere Wohnungspolitik gefordert. 100 000 bezahlbare Wohnungen fehlten derzeit in Niedersachsen, sagte Matthias Günther, Vorstand des Eduard-Pestel-Institutes, bei einer Pressekonferenz in der hannoverschen Marktkirche. Mehr als 150 Fachleute und Betroffene von Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen und Gewerkschaften diskutierten am Montag über die dramatische Lage auf dem Wohnungsmarkt. Während die Nachfrage nach hochpreisigen Wohnungen in den vergangenen Jahren „durchaus marktgerecht“ bedient worden sei, fehlten bezahlbare Wohnungen für niedrige und mittlere Einkommen, sagte Pestel-Instituts-Chef Günther weiter.
Problematisch sei vor allem der Abbau bei den Sozialwohnungen. Bei vielen Sozialwohnungen liefen jahrzehntelange Sozialbindungen aus. Sie dürften mittlerweile als ganz normale Mietwohnungen auf dem Markt angeboten werden. Es habe in Niedersachsen Ende 2018 nur noch noch knapp 75 000 Sozialwohnungen gegeben. Rund 30 Jahre zuvor seien es noch 290 000 gewesen. Das Land steuere nicht entschieden genug gegen, sagte Günther. Niedersachsen sei, was die Investitionen in den sozialen Wohnungsbau angehe, in einem Vergleich der Bundesländer des Pestel-Institutes auf dem drittletzten Rang gelandet. Nur noch Thüringen und das Saarland seien schlechter gewesen.
Lars Niggemeyer vom Deutschen Gewerkschaftsbund Niedersachsen forderte als Sprecher der Landesarmutskonferenz eine eigene Landeswohnungsbaugesellschaft, die wieder bezahlbare Wohnungen für Normalverdienende anbiete. Die Ausgrenzung der Gruppen, die es schon immer schwer am Wohnungsmarkt hatten, habe deutlich zugenommen, beklagte Meike Janßen vom Sozialverband Niedersachsen. Der Bestand an Sozialwohnungen müsse um mindestens 100 000 angehoben werden.
HAZ vom 02.11.2019, S. 24:
Obdachlose wollen Shuttle früher
Notschlafstelle: Tour am Nachmittag
(asl). Sinkende Temperaturen, nasskalte Nächte – für Obdachlose wird es immer härter, auf der Straße zu übernachten. Die Stadt Hannover unterhält mehrere Notschlafstellen, unter anderem am Alten Flughafen in Vahrenheide. Ein Shuttlebus bringt die Obdachlosen vom Hauptbahnhof dorthin, jedoch erst um 19 Uhr. „Wir wünschen uns angesichts der Kälte einen früheren Termin für den Shuttle, etwa um 17 oder 17.30 Uhr“, sagt ein Betroffener. Mehrere Unterschriften habe er bereits gesammelt, um dem Wunsch Nachdruck zu verleihen. Die Notunterkunft sei um diese Zeit auch schon geöffnet.
Insgesamt 22 500 Euro lässt sich die Stadt das Angebot für die Jahre 2019 und 2020 kosten. Anfangs hatte die Verwaltung für beide Jahre mit insgesamt 10 000 Euro kalkuliert. Es zeigte sich aber schnell, dass das Geld nicht ausreicht. Man sei überrascht gewesen, wie stark das Angebot von den Obdachlosen genutzt worden sei, hieß es kürzlich vonseiten der Stadt.
Nach Angaben der Verwaltung sind derzeit 1238 Menschen von der Stadt wegen Wohnungslosigkeit dauerhaft untergebracht. Für Menschen, die spontan eine Unterkunft benötigen oder regelmäßig auf der Straße leben und im Winter kurzfristig ein Quartier brauchen, hält die Stadt aktuell 220 sogenannte Notplätze zur Verfügung.
HAZ vom 23.10.2019, S. 15:
Stadt verteilt Fahrkarten an Obdachlose
Notunterkünfte sollen im Winter erreichbar bleiben / Kosten für 2019/2020: Rund 22 500 Euro
Von Jutta Rinas
Die Stadt Hannover will im Winter kostenlose Fahrkarten für Busse und Bahnen an Obdachlose verteilen. Damit sollen die Obdachlosen, die sich tagsüber häufig in der Innenstadt aufhalten, die Notschlafplätze besser erreichen. In der Notunterkunft am Alten Flughafen in Vahrenheide beispielsweise, die 2017 eingerichtet wurde, gibt es mittlerweile 150 Plätze für alle Personengruppen. Obdachlose können dort bei Kälte eine sichere Nacht verbringen – allerdings ist die Unterkunft für viele schwer zu erreichen. Damit die Betroffenen zu solchen Einrichtungen besser hinkommen, will die Stadt ein Projekt aus dem vergangenen Winter dauerhaft anbieten und Tickets für die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ausgeben. Die Tickets sollen für die Fahrt in eine Obdachlosenunterkunft sowie für die Rückfahrt am nächsten Tag in die City gelten.
Insgesamt 22 500 Euro lässt sich die Stadt das in den Jahren 2019 und 2020 kosten. Anfangs hatte die Verwaltung für beide Jahre mit insgesamt 10 000 Euro kalkuliert. Es habe sich aber sehr schnell gezeigt, dass das Geld nicht ausreiche, sagt der Suchtbeauftragte Frank Woike. Man sei überrascht gewesen, wie stark das Angebot von den Obdachlosen genutzt worden sei. Die Fahrkartenausgabe gilt jeweils für die Monate November bis März. Der städtische Sozialausschuss gab für das Projekt jetzt jedenfalls schon einmal grünes Licht. Es wurde einstimmig von allen Fraktionen angenommen.
Die Maßnahme wird flankiert von einem Busshuttle, der Obdachlose im selben Zeitraum einmal täglich um 19 Uhr zur Notunterkunft Alter Flughafen bringt. Im vergangenen Winter gab es in Hannover einen Kältetoten – jetzt verbessert die Stadt ihre Konditionen für die Unterbringung von Obdachlosen in der kalten Jahreszeit. So wurden die Öffnungszeiten der Notschlafstellen erweitert, künftig sind unter bestimmten Voraussetzungen auch Hunde erlaubt.
Nach Angaben der Verwaltung sind derzeit 1238 Menschen von der Stadt wegen Wohnungslosigkeit dauerhaft untergebracht. Für Menschen, die spontan eine Unterkunft benötigen oder regelmäßig auf der Straße leben und im Winter kurzfristig ein Quartier brauchen, hält die Stadt aktuell 220 sogenannte Notplätze zur Verfügung.
Quelle: Kutter
HAZ vom 04.10.2019, S. 21:
Stadt erweitert Winterhilfe für Obdachlose
Notschlafstellen öffnen schon zum 1. November / Erstmals abschließbare Spinde und Plätze für Hunde
Von Conrad von Meding
Im vergangenen Winter hatte Hannover einen Kältetoten zu beklagen – jetzt will die Stadt die Unterbringung für Obdachlose in der kalten Jahreszeit verbessern. Erstmals startet sie ihr Winternotprogramm nicht erst mit Beginn der Frostnächte, sondern bereits zum 1. November. „So können wir die Abläufe besser einspielen“, sagt Sachgebietsleiter Ralf Lüdtke. Und es gibt weitere Neuerungen: Alle Notschlafstellen sollen über abschließbare Spinde verfügen, weil Obdachlose häufig über Angst vor Diebstählen klagen. Testweise werden auch Schlafstellen für Menschen mit Hunden eingerichtet, und der Shuttlebus aus der Innenstadt zur Notunterkunft am Alten Flughafen wird regelmäßig angeboten.
Aus der Ratspolitik gab es parteiübergreifendes Lob für die Neuerungen. Im Frühsommer hatten die Fraktionen bessere Unterbringungsbedingungen für Obdachlose gefordert. „Das ist alles sehr fortschrittlich“, sagte SPD-Ratsherr Lars Kelich. „Die Umsetzungsgeschwindigkeit der Stadt ist super“, meinte CDU-Kollege Hannes Hellmann. Von FDP, Linken und AfD gab es kritische Nachfragen, aber insgesamt auch Zufriedenheit mit dem vorgestellten Konzept.
1238 Menschen sind derzeit von der Stadt wegen Wohnungslosigkeit dauerhaft untergebracht. Vielfach handelt es sich bei ihnen um Zuwanderer aus Osteuropa, die hier gestrandet sind. Ziel sei es, sie in festen Unterkünften zu betreuen, wo es auch Sozialarbeiter und klare Verhaltensregeln gebe, sagt Lüdtke. Insgesamt stehen vier Wohnprojekte, 120 angemietete Wohnungen sowie 15 Gemeinschaftsunterkünfte dafür zur Verfügung.
Für Menschen, die spontan eine Unterkunft benötigen oder regelmäßig auf der Straße leben und im Winter kurzfristig ein Quartier brauchen, hält die Stadt aktuell 220 sogenannte Notplätze zur Verfügung. Im Moment seien etwa 100 davon belegt, berichtet Lüdtke. Allerdings: „Wir beobachten den Trend, dass Notschlafstellen immer mehr gefragt werden.“
Auf Drängen des Rates wurden daher die Öffnungszeiten der Notschlafstellen um je eine Stunde nach vorn und nach hinten erweitert, sie sind nun von 17 bis 9 Uhr ohne Anmeldung nutzbar. Die Unterkünfte befinden sich in der Wörthstraße (Männer), am Vinhorster Weg (Frauen ohne Kinder), in der Langensalzastraße (Frauen mit und ohne Kinder) und am Alten Flughafen (für alle Personengruppen). Erstmals dürfen sie auch mehrere Tage hintereinander genutzt werden – sonst mussten die Nutzer dafür in eine reguläre Unterkunft umziehen.
Neu ist vor allem das Testangebot, dass auch Hunde in Notschlafstellen mitgebracht werden dürfen – für viele Obdachlose war das Verbot bisher ein Ausschlusskriterium für die Wahl eines Platzes in einer Unterkunft. Am Alten Flughafen sind nun Container mit zunächst acht bis zehn Schlafplätzen eingerichtet, die Tierhalter belegen dürfen. Die Hunde sollen auf Decken vor dem Bett schlafen. „Es ist ein Test“, sagt Lüdtke: „Wir wissen nicht, ob die Hunde sich vertragen oder Maulkörbe brauchen und wie es mit der Reinigung wird.“ Neu ist auch, dass es in den Notschlafstellen Sozialarbeit und Krisenintervention gibt.
Die Stadt will so die schlimmsten Winterfolgen für Obdachlose abfedern. Es gibt zudem unterschiedliche weitere Hilfsangebote wie den Kältebus oder die Straßenambulanz. Wenn es bitterkalt wird, öffnen darüber hinaus die Üstra ihre U-Bahnstationen und die Marktkirche ihren Kellerraum, um Menschen Schutz zu bieten.
HAZ vom 04.10.2019, S. 21:
Erika H. muss Platz für Little Home räumen
Das Verwaltungsgericht hat einen Eilantrag der Bewohnerin abgelehnt, mit dem sie versucht hatte, die Räumung zu verhindern. Ob sie schnell wieder ein Dach über dem Kopf findet, ist ungewiss.
Von Jutta Rinas
Die obdachlose Erika H. aus Hannover darf mit ihrem Little Home, einem Miniholzhaus, nicht weiter auf einer öffentlichen Straße in Ricklingen stehen. Das Verwaltungsgericht Hannover hat einen entsprechenden Eilantrag der Frau am Mittwoch abgelehnt. Die Stadtverwaltung hatte der Obdachlosen nach langem Streit eine Räumung für den morgigen Sonnabend angedroht. Die Verwaltung argumentiert, der Standort für das Little Home im öffentlichen Straßenraum sei rechtlich unzulässig.
Dem folgte jetzt das Verwaltungsgericht. Für das Abstellen einer Miniwohnbox für Obdachlose auf der Fahrbahn einer öffentlichen Straße zur dauerhaften Übernachtung sei eine straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis nötig, befand die 7. Kammer. Diese habe die Stadt nicht erteilt. Das Little Home entspreche zudem aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den Anforderungen an die öffentliche Sicherheit und Ordnung, denn der fließende Verkehr bewege sich in nächster Nähe um das Minihaus herum, argumentierte die Kammer weiter. Auch die Frage nach der Beseitigung von Abfällen und Abwasser sei nicht geklärt.
Die Stadt hat nach Angaben des Gerichts angekündigt, das Little Home von Erika H. am Sonnabend „sicherzustellen und andernorts zu verwahren“. Zum weiteren zeitlichen Vorgehen könne man sich noch nicht äußern, sagte eine Sprecherin am Mittwoch.
Zunächst hatte die Hütte auf dem Privatgrundstück der Sankt-Augustinus-Kirchengemeinde gestanden. Die Gemeinde hatte das Little Home aber von dort räumen lassen, nachdem sich die Frau geweigert hatte, einen alternativen Stellplatz zu akzeptieren. Weil Erika H. sich der Räumung widersetzte, gelang es nur, die Wohnbox auf einen nahen Parkplatz zu schieben. H. reagierte auf eine HAZ-Anfrage nicht.
In ihrem Eilantrag argumentierte die wohnungslose Frau, nicht sie, sondern Dritte hätten ihr Haus von dem Privatgrundstück auf die Straße gesetzt. Deshalb könne sie nicht gezwungen werden, den Parkplatz mit ihrer Wohnbox zu verlassen.
Das sei rechtlich unerheblich, befand die 7. Kammer. Erika H. habe sich geweigert, auf ein Privatgrundstück umziehen, auf dem das Aufstellen des Little Homes erlaubt gewesen wäre. Sie habe sich diesen Standort also widerrechtlich zu eigen gemacht. Erika H. habe zuvor bereits viele Hilfsangebote der Landeshauptstadt und des Kölner Vereins Little Home abgelehnt, heißt es weiter. Infolge dieser Angebote sei sie auch nicht gezwungen, nunmehr unter freiem Himmel zu übernachten. Die bisherigen Alternativen stünden aber nicht mehr zur Verfügung, sagt Sven Lüdecke vom Verein Little Home. Durch den Streit um H.’s Hütte sei die Unterstützung in der Bevölkerung für solche Projekte merklich gesunken. Lüdecke hat nach eigenen Angaben drei weitere Little Homes in Hannover aufgestellt. Nirgendwo habe es derartigen Ärger gegeben.
Zumindest die Kosten für Sicherstellung und Verwahrung des Little Homes werden der Frau offenbar nicht in Rechnung gestellt. Die Stadt habe zugesagt, dass sie dafür kein Geld von ihr verlangen werde, heißt es in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Jutta Rinas
HAZ vom 02.10.2019, S. 21:
Little Home: Obdachlose klagt gegen die Stadt
Bewohnerin wehrt sich vor Gericht gegen Räumung / Alternativangebote lehnt sie aber offenbar seit Monaten ab
Von Jutta Rinas
Eine obdachlose Frau zieht per Eilantrag gegen die Stadt Hannover vor das Verwaltungsgericht. Die Frau will auf diesem Wege verhindern, dass die Stadt ihr sogenanntes Little Home räumt, eine Mini-Wohnbox aus Holz, die auf einem Parkplatz in einer kleinen Stichstraße in Ricklingen steht. Die Stadt argumentiert, der Standort für das Little Home im öffentlichen Straßenraum sei rechtlich unzulässig, außerdem lägen schon Beschwerden aus der Nachbarschaft vor. Ein erster Räumungsversuch war in der vergangenen Woche gescheitert. Einen zweiten hat die Stadt für kommenden Sonnabend angekündigt. Diesen versucht die obdachlose Frau per Eilantrag zu verhindern. Sie wollte am Dienstag gegenüber der HAZ nicht öffentlich Stellung nehmen.
Die Entscheidung der Richter und die Konsequenzen der Stadt könnten das Ende eines seit Monaten schwelenden Streits bedeuten. Dabei war die Euphorie zu Beginn groß. Es war kalt, kurz vor Weihnachten 2018, als die wohnungslose Erika H. eines der ersten Little Homes in Hannover bezog. Sie sei glücklich, dass sie ausgerechnet zu Weihnachten zum ersten Mal seit drei Jahren wieder ein Dach über dem Kopf habe, sagte sie damals. Jetzt muss sie möglicherweise per Gerichtsbeschluss aus ihrer Mini-Wohnbox hinaus. Aber wer glaubt, es gehe hier nur um die Frage, wie (un-)menschlich die Verwaltung mit einem wohnungslosen Menschen umgeht, der macht es sich zu leicht. Der Fall ist auch ein Beispiel dafür, wie schwierig es sein kann, obdachlosen Menschen zu helfen – auch dann, wenn die Lösung manchmal zum Greifen nahe scheint.
Denn wen man auch fragt, der betont, man habe Erika H. Alternativen angeboten. Die Stadt verweist auf ihr Angebot für Obdachlose in den Notunterkünften. Der Kölner Betreiber der Little Homes selbst, Sven Lüdecke, spricht davon, dass er bereits seit Ende Februar 2019 nach einem neuen Stellplatz für das Zuhause der Frau sucht. In Vinnhorst hätte sie auf dem Grundstück eines Unternehmers mit großem Garten und eigenem Gartentor als Zugang leben können, sagt er. Mehrere Rentner-WGs mit großen Wohnungen hätten sich gemeldet, die H. aufnehmen wollten. Sogar eine Klientin der früheren Yogalehrerin habe helfen wollen. H. benehme sich wie „ein bockiges Kind“, das selber nicht wisse, was es möchte, sagt Lüdecke, der, dessen ungeachtet, nach eigenen Angaben immer noch bereit wäre, ihr zu helfen.
Die Sankt-Augustinus-Kirchengemeinde, auf deren Gelände das Little Home von Erika H. ursprünglich stand, formuliert es etwas vorsichtiger. Die Frau argumentiere damit, dass sie wie eine Sache behandelt werde, sagt Herbert Stürwold, stellvertretender Vorsitzender der Kirchengemeinde: Es werde nicht mit ihr, sondern nur über sie gesprochen. Das ist nach Stürwolds Ansicht aber mitnichten der Fall. Tatsächlich habe es viele Gesprächsangebote gegeben – auch vonseiten der Gemeinde. H. schlage jedes Verhandlungs- und Kompromissangebot aus. Bedauerlich: Beide, der Kölner Verein Little Home und die Kirchengemeinde, wollen aufgrund des Streits künftig Abstand von der Hilfe für Obdachlose nehmen. Lüdecke will sich mit seinen noch nicht in Hannover aufgestellten Little Homes in Richtung Hamburg und Berlin orientieren. Derzeit gibt es in Hannover insgesamt drei Wohnboxen für Obdachlose.
Quelle: Behrens
„Wir fühlen uns in unserer Gutmütigkeit ausgenutzt und sind für die Zukunft erst einmal abgeschreckt, so etwas noch einmal zu machen“, sagt Herbert Stürwold von der Kirchengemeinde Sankt Augustinus. Die Gemeinde hatte den Stellplatz für das Little Home nach eigenen Angaben nur übergangsweise, für drei Monate, zur Verfügung gestellt – und die Stelldauer dann noch einmal um weitere drei Monate verlängert. Als Erika H. sich weigerte, einen alternativen Stellplatz anzunehmen, machte die Kirche am 21. Juni 2019 von ihrem Hausrecht Gebrauch und versuchte, das Little Home mithilfe eines Abschleppdienstes und der Polizei wegschaffen zu lassen.
Drei Stunden hätten Vermittlungsversuche gedauert, sagen Beteiligte übereinstimmend. Am Ende habe sich H. in einem unbeobachteten Moment in der Wohnbox eingesperrt und so das Abschleppen des Häuschens verhindert. Später am Abend habe man die Wohnbox auf einen zufällig freien Parkplatz in der Nähe des Kirchengeländes geschoben. Nach Angaben eines Gerichtssprechers macht H. jetzt vor Gericht geltend, dass nicht sie, sondern unbefugte Dritte ihr Little Home in den öffentlichen Straßenraum auf dem Parkplatz in Ricklingen verbracht hätten.
Dort steht die Minibox jedenfalls bis jetzt. Ob sie der Obdachlosen weiter an ebenjener Stelle als Wohnhaus dienen kann, muss jetzt das Verwaltungsgericht entscheiden.
HAZ vom 27.09.2019, S. 32:
Streit um Camps für Obdachlose
Stadt Düsseldorf hat Steine auf Zeltlagerplatz gelegt
Düsseldorf. Ein Streit um die Verhinderung von Obdachlosenlagern in Düsseldorf eskaliert. Die Stadt hatte auf Flächen, auf denen Obdachlose gezeltet hatten, große Steine ausgelegt. Nachdem Unbekannte die Steine am Mittwoch beiseitegeräumt hatten, brachte sie eine Obdachloseninitiative am Donnerstag zurück zum Absender: Die Gruppe legte die Steine auf den Treppen des Rathauses ab.
Die zuständige Amtsleiterin Miriam Koch sagte, man werde versuchen, den Konflikt zu lösen. Die angebotene Unterbringung in einer ehemaligen Schule sei für die Obdachlosen besser als der Lagerplatz, an dem es neben Beschwerden auch hygienische Probleme mit Ratten und Müll gegeben habe. „Wir können aber niemanden zwingen.“
Die Steine hatte die Stadt Düsseldorf auf der Fläche eines Obdachlosencamps unter einer Rheinbrücke ausgelegt. An anderer Stelle waren Fahrradständer montiert worden. Koch betonte, dass die Stadt Obdachlosenlager bis auf wenige Ausnahmen dulde.
Quelle: Gambarini/dpa
HAZ vom 18.09.2019, S. 17:
Immer mehr Obdachlose, immer größeres Elend
Hilfsorganisationen schlagen Alarm: Vor allem Osteuropäer in der Abwärtsspirale / Kritik an städtischen Unterkünften
Von Simon Benne und Andreas Schinkel
Hannover. Es ist ein Wolkentag hinter dem Hauptbahnhof. In der Nacht hat es geregnet. Der Herbst gibt schon mal seine Visitenkarte ab. Jacek hat sich vorhin in der Kleiderkammer der Diakonie eine Fleecejacke mit Tarnmuster geholt. Jetzt zieht er den Reißverschluss höher. „Der Sommer war super, aber der Winter wird schrecklich werden“, sagt er und blickt zum Himmel. Der 47-Jährige lebt auf der Straße, oft schläft er draußen. Wie das Wetter wird, das ist für ihn kein Small-Talk-Thema, sondern eine Frage von existenzieller Bedeutung.
Quelle: Benne
Etwa 3000 bis 4000 Wohnungslose leben nach Angaben der Diakonie in Hannover. Wohnungslos sind diejenigen, die keine eigenen vier Wände besitzen, aber bei Freunden und Bekannten unterkommen. Obdachlos und damit auf der Straße lebend sind etwa 300 bis 500 Menschen. Die Übergänge sind fließend.
Katharina Pätzold von der Beratungsstelle La Strada berichtet bei einem Expertengespräch im Bezirksrat Mitte von Frauen ohne eigene vier Wände, die sich nachts mit Aufputschmitteln wachhalten. Und wenn sie nach fünf bis sechs Nächten völlig erschöpft sind, kommen sie bei Bekannten unter – häufig gegen sexuelle Dienstleistungen. „Die Zahl der Wohnungslosen nimmt zu und die Verelendung auch“, sagt sie. Das bestätigen andere Hilfsorganisationen. Insbesondere Osteuropäer, die keinen Job haben und durch alle Raster staatlicher Hilfen fallen, versinken im Strudel aus Alkoholsucht, Frust, Scham und Hoffnungslosigkeit. „Einem Wolfgang können wir weiterhelfen, einem Wladimir nicht“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes.
Im Kontaktladen Mecki bekommen Obdachlose warme Getränke und Beratung. Insa Cathérine Hagemann
Früher, sagt Jacek, noch gar nicht so lange her, da habe er Arbeit gehabt, auf der Baustelle und bei einer Securityfirma. Seinen Abstieg beschreibt der 47-Jährige, der schon vor Jahrzehnten aus Polen nach Deutschland kam, in Stichworten: Arbeit weg, Frau weg, Wohnung weg, Gesundheit weg. Und natürlich der Alkohol. Was dabei am Anfang stand, lässt er offen; man ahnt, dass in so einer Abwärtsspirale alle Faktoren einander bedingen. Manchmal schläft Jacek jetzt in einer städtischen Unterkunft, manchmal im Freien. „Mit Schlafsack, aber wenn es kalt wird, ist das trotzdem scheiße“, sagt der kräftige Mann mit dem Kurzhaarschnitt.
Im vergangenen Winter ist ein Obdachloser am Kröpcke erfroren.Die Marktkirche öffnete in kalten Nächten ihre Pforten, Kältebusse von Johannitern, Caritas und Maltesern verteilten Tee und Suppe. „Essen und Klamotten sind für uns eigentlich kein Problem“, sagt Jacek. Die anderen Obdachlosen, die um ihn herum auf Bänken sitzen und rauchen, nicken zustimmend. „Wir frühstücken im Kontaktladen Mecki und bekommen warme Sachen in der Kleiderkammer“, sagt er, „das Problem ist die Wohnung.“ Wer einmal auf der Straße ist, findet keine Wohnung. Wer keine Wohnung hat, bekommt keine Arbeit. „Die Wohnung wäre der erste Schritt“, sagt Jacek.
Das sehen viele Experten ähnlich. Housing First nennen sie eine Strategie, die den Kreislauf aus Obdachlosigkeit und sozialem Abstieg durchbrechen will,indem sie Menschen zunächst ein Dach über dem Kopf verschafft, in Miniappartements mit festen Mietverträgen. Eine eigene Adresse. Städtische Unterkünfte könnten das nicht ersetzen, sagt ein 30 Jahre alter Rumäne am Weißekreuzplatz. „Die sind außerdem nicht sehr komfortabel“, sagt der Mann, den man sich nicht als besonders anspruchsvoll vorstellen darf: Auch im Winter schläft er lieber auf einer Parkbank. In den Unterkünften könne man zwar übernachten, sagt auch Jacek. „Aber Schlafen ist ja nicht Wohnen.“
Die städtischen Unterkünfte sind bei Obdachlosen unbeliebt, das betonen Sozialarbeiter immer wieder. „In den großen Unterkünften, etwa am Vinnhorster Weg und an der Schulenburger Landstraße, schlafen die Menschen eng beieinander und finden keine Ruhe“, sagt Jan Ulrichs von der Selbsthilfe für Wohnungslose während des Expertengesprächs im Bezirksrat. Kritisch sehen Sozialarbeiter auch die Notschlafstelle am Alten Flughafen. Das sei im Grunde eine Massenunterkunft, meint ein Mecki-Mitarbeiter. Gesunde müssten sich den Raum mit psychisch Kranken und Süchtigen teilen. Eine Privatsphäre gebe es nicht. Zudem seien die Obdachlosen gezwungen, morgens die Notschlafstelle wieder zu verlassen. Dann müssten sie zusehen, wie sie ihren Tag herumkriegen.
Jacek ist tagsüber oft im Trinkraum Kompass am Raschplatz, besonders wenn es regnet. „Das ist super, dort ist es warm, man kann reden oder ein Nickerchen im Sitzen machen“, sagt er.
Vor knapp zwei Jahren wurde der schlichte Rückzugsraum für Obdachlose im Spielbank-Gebäude am Raschplatz eröffnet. Besucher dürfen dort Bier trinken, Schnaps hingegen ist tabu. Im vergangenen Winter war die Einrichtung oft überfüllt. Je schlechter das Wetter, umso größer ist das Gedränge im Kompass: „Es wird jetzt schon wieder voller“, sagt ein Sozialarbeiter dort, „wir bräuchten dringend größere Räume.“
„Was ist zu tun?“, fragen sich Sozialarbeiter. Hilfsangebote verstärken, mehr Essensausgaben organisieren, mehr Schlafstellen, mehr Kleiderspenden, mehr von allem? Das mache die Menschen abhängig von Almosen. Es müsse vielmehr darum gehen, Wege zu einem selbstbestimmten Leben aufzuzeigen, meinen Experten. Diakoniepastor Müller-Brandes rät, sich jeden Einzelfall genau anzuschauen und im Falle der osteuropäischen Obdachlosen zunächst die Sprachprobleme zu überwinden. „Wir sollten den Menschen eine Struktur für den Tag geben. Warum sollten sie nicht für ein kleines Entgelt den Raschplatz reinigen?“, schlägt Müller-Brandes vor.
Wenn Jacek sich etwas wünschen dürfte, dann dass in der Nähe des Kompass’ eine Dixi-Toilette aufgestellt wird. „Es stinkt hier nach Urin“, sagt er. „Wir leben hier im Dreck“, sagt er mit fester Stimme, „und das wollen wir nicht.“ Es ist ein bescheidener Wunsch.
HAZ vom 22.06.2019, S. 22:
„Asphalt“ feiert Jubiläum mit 500 Gästen
Ministerpräsident Stephan Weil und Theologin Margot Käßmann sind unter den Laudatoren
Von Jutta Rinas
„Die Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist auf einem Rekordstand. Und es ist nicht davon auszugehen, dass es weniger wird.“ Es war Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes, der bei der Jubiläumsfeier zum 25. Geburtstag des Straßenmagazins „Asphalt“ im Hannover Congress Centrum vor mehr als 500 Gästen inmitten vieler berechtigter Lobesworte auch eine bittere Erkenntnis nicht unterschlug.
In 25 Jahren habe sich die Not der Menschen auf der Straße nicht verbessert, sagte Müller-Brandes. Im Gegenteil: Bis vor wenigen Jahren sei es undenkbar gewesen, dass Menschen, die auf der Straße übernachteten, Teil des hannoverschen Stadtbildes werden würden. Jetzt sei dies so – und eine Riesenherausforderung für alle, denn: „Es kann doch nicht sein, dass man bei uns auf der Straße übernachtet.“
Eine Stütze der Wohnungs- und Obdachlosen in den vergangenen 25 Jahren war das Straßenmagazin „Asphalt“. Wie es die Not der Obdachlosen in den Blick nahm und sie für die Verkäufer des Magazins, ausschließlich Bedürftige, durch eine Beteiligung am Verkaufserlös konkret linderte, wurde an diesem von Jan Sedelies und Tanja Schulz moderierten Abend im Leibniz-Saal eindrucksvoll illustriert: in Reden und in der Jubiläumsausgabe „Asphalt, 25 Jahre – das Herz der Straße“. Die Jubiläumsausgabe ist vom 1. Juli an auch auf den Straßen Hannovers zu kaufen.
Ministerpräsident Stephan Weil erinnerte in einer sehr persönlichen Rede unter anderem an die „verstärkte Höflichkeit“, mit der der frühere Diakoniepastor Walter Lampe die „Asphalt“-Gründung tatkräftig vorantrieb. Die evangelische Theologin Margot Käßmann betonte, wie sehr sie es schätze, dass sich mit Hilfe von „Asphalt“ unterschiedlichste Menschen, Käufer und Verkäufer, auf der Straße auf Augenhöhe und in Würde begegnen könnten. Fast sechs Millionen Exemplare seien bislang verkauft worden, sagte Georg Rinke, Geschäftsführer von „Asphalt“, mehr als 3000 Verkäufer seien unterstützt worden, seit 2005 hätten rund 36 700 Menschen an den sozialen Straßenrundgängen von „Asphalt“ teilgenommen.
„Asphalt“ wäre nicht „Asphalt“, wenn es nicht sogar mit Blick auf die Gäste einen unkonventionellen Stil bewahrte. Eine Sitzordnung gab es nicht, egal ob vermeintlich Wichtige oder Bedürftige. Beim Fest von „Asphalt“ saß ungeachtet des sozialen Standes jeder neben jedem.
Neben den kabarettistischen Journalisten vom Salon Herbert Royal und dem Saxofonquartett Sistergold spielte mit ChorWerk ein Obdachlosenchor unter großem Applaus zur Feier auf.
Quelle: Behrens
HAZ vom 15.06.2019, S. 18:
Streit, laute Musik, Dreck: „Nichts ist besser geworden“ Noch immer stört die Trinkerszene die Menschen am Weißekreuzplatz – trotz Ordnungsdienst und neuer Verbotsschilder
Von Karl Doeleke
Hannover.Es ist kurz nach 9 Uhr morgens am Weißekreuzplatz in der Oststadt. Ein dürrer Mann, zotteliger Bart und abgewetzte Kleidung, kriecht aus seinem Schlafsack auf dem Rasen und schlurft in Richtung öffentlicher Toilette am Nordende. „Na, wenigstens pinkelt er nicht gegen einen Baum“, sagt Erkan Demirgenci, der das Geschehen zwischen Pavillon und Lister Meile von seinem Kiosk aus fast immer im Blick hat. „Wenn die Toilette besetzt ist, machen die das.“ Die, damit meint er die Trinkerszene am Weißekreuzplatz, überwiegend Männer.
„Nichts ist besser geworden“, sagt er. Anwohner beschweren sich schon lange über Trinkergruppen, die sich hier versammeln, über den Lärm und Dreck und Kot in den Büschen. Auf dem Weißekreuzplatz ist es sonnig und hübsch, Rosenstöcke und Bäume säumen den Rasen. Schöne Oststadt-Häuser drumherum. Man kann den Trinkern ihre Platzwahl kaum verübeln.
Doch das tun die Nachbarn, und das kann man andererseits denen nicht verübeln. Nach etlichen Runden hatten sich Anwohner, Geschäftsleute und Stadt im vergangenen Jahr auf einen Regelkatalog für die Nutzung des Platzes geeinigt– lautstarke Musik und Ruhestörungen sollten unterbleiben, der Müll auf dem Platz sollte endlich eingedämmt werden.
Selbstverständlichkeiten im menschlichen Miteinander eigentlich. Die Regeln sollten fortan aber auch kontrolliert werden. Große Hoffnungen setzten die Anwohner darum in den neuen Ordnungsdienst der Stadt.
Quelle: Villegas
Doch wirklich besser sei es nur vorübergehend gewesen, sagt Demirgenci. Als der Ordnungsdienst seine Arbeit aufnahm und in der kälteren Jahreszeit. Jetzt, wo das Wetter wieder schöner ist, geht der Ärger von Neuem los. „Das fängt schon morgens um 7.30 Uhr an, wenn der Penny-Markt öffnet.“ Dann besorgten sich die Ersten ihren Alkohol und begännen zu trinken, sagt er. Auch an diesem Morgen sitzen mehrere Männer mit Flaschen in der Hand in kleinen Gruppen auf den Bänken in der Sonne. Einige liegen noch in Schlafsäcken auf dem Rasen.
Die Stadt weiß das und teilt die Einschätzung der Anlieger. Leider fielen einige „unangenehm durch Ruhestörungen, Verunreinigung des Platzes und Verrichten der Notdurft außerhalb der vorhandenen Toilettenanlage“ auf. Der Ordnungsdienst sei täglich vor Ort und erteile notfalls Platzverweise, sagt ein Sprecher. Er verspricht: Der Ordnungsdienst werde „die Kontrollen an den kommenden wärmeren Tagen weiter intensivieren und deutlich machen, dass eine Nutzung des Platzes nur unter Einhaltung der Regeln geduldet wird“.
Dabei gibt es neuerdings sogar Schilder mit Bildern zu den Regeln, aber „auch die Schilder bringen nichts“, stellt Kioskbetreiber Demirgenci fest. Er meint damit Tafeln mit erklärenden Piktogrammen, die seit April am Platz aufgestellt wurden. Nicht alle der Trinker beherrschen Deutsch, darum sollen die Bilder eine klare Sprache sprechen. Geändert hat sich trotzdem wenig.
Ein Alkoholverbot gibt es am Weißekreuzplatz nicht, obgleich sich die Anwohner dafür starkgemacht hatten. Holger Jongen ist ohnehin enttäuscht vom Ergebnis der Bürgerbeteiligung. „Wir haben drei Jahre lang mit sämtlichen Institutionen zusammengesessen, und fast alle unsere Vorschläge wurden abgelehnt.“
Zum Beispiel, einen Kinderspielplatz zu bauen – Alkohol wäre damit automatisch verboten. So aber, sagt Jongen, habe sich nichts geändert, „auch durch den Ordnungsdienst nicht“.
An diesem Morgen verhalten sich die Trinker ruhig. Noch, sagt Kioskbesitzer Demirgenci. Mit jeder Stunde und mit steigendem Alkoholpegel werde es lauter. Bis 22 Uhr haben die Ordnungskräfte der Stadt beruhigende Wirkung – doch wenn sie Feierabend machen, „dann geht es los“. Laute Musik, bierselige Diskussionen, Streit.
Nachts, wenn er in seiner Wohnung ist, sagt Demirgenci, sei es fast so laut, als wäre er mitten unter den Trinkern. Aber auf den Weißekreuzplatz selbst mag er sich nicht mehr setzen. „Das sind aggressive Leute.“
HAZ vom 25.04.2019, S. 19:
„Patienten sind Patienten“
Henner Bunke, Präsident der Zahnärztekammer, behandelt erstmals Obdachlose im Zahnmobil
Von Carina Bahl
Der beherzte Griff des Zahnarztes an den Oberarm tut not: Mit einem ungewollten Ausfallschritt verlässt der Patient den Behandlungsstuhl. Es braucht nicht viel, um zu erkennen, dass der Mann, der da in abgewetzter Hose mit seinem großen Rucksack aus dem Zahnmobil am Raschplatz steigt, betrunken ist. „In zwei Wochen müssen sie wieder kommen“, mahnt der Arzt. „Selber Ort, selbe Zeit.“ Der Mann nickt. Lächelt. „Ich bekomme neue Zähne“, sagt er stolz.
Patienten, die betrunken in die Praxis kommen, kennt Henner Bunke, Präsident der Zahnärztekammer Niedersachsen, aus seinem Berufsalltag sonst nicht. „Aber Patienten sind Patienten. Schmerzen sind Schmerzen“, sagt er, als wäre es sein Mantra für diesen Tag. Am Mittwoch absolviert der Zahnarzt aus der Gemeinde Wietze seine erste Schicht im sogenannten Zahnmobil –einer fahrenden Praxis, die in einem umgebauten Rettungswagen seit sieben Jahren in Hannover eine wichtige Anlaufstelle für Bedürftige ist. „Ich will mit meinem Einsatz die Wertschätzung zeigen, die ich für dieses Projekt empfinde“, sagt Bunke. Und wie sollte das besser gehen, als einmal selbst mit anzupacken?
2500 Behandlungen seit 2012
Mehr als 2500 Patienten haben das kostenlose Angebot des Zahnmobils seit 2012 bereits angenommen. Angela McLeod kennt fast jeden von ihnen. Von Anfang an ist sie dabei. Während die Ärzte in jeder Schicht wechseln, ist die Zahnarzthelferin das bekannte Gesicht für die Patienten. Freundlich, herzlich, dankbar begrüßen die Obdachlosen und Bedürftigen „ihre“ Helferin. „Die Menschen brauchen die Hilfe wirklich“, sagt McLeod. Zahnschmerzen seien etwas Schreckliches – für jeden. Kaum einer ihrer Patienten würde sich aber in eine normale Zahnarztpraxis trauen. „Hier werden sie angenommen, wie sie sind“, sagt McLeod – drogensüchtig, alkoholabhängig, in vielen Fällen ungewaschen. Der Behandlungsstuhl bietet oft mehr als medizinische Versorgung. „Wir sprechen mit den Menschen, lassen sie erzählen, erfahren ihre Schicksale“, sagt sie. Und die nehmen mit: Handwerker, die nach der Insolvenz ihrer Firma ungewollt auf der Straße gelandet sind. Junge Frauen, schwanger – ohne Wohnsitz. Jugendliche, die mangels Therapieplätzen nach dem Drogenentzug rückfällig werden. „Das geht nahe, aber wir können hier wenigstens etwas helfen.“
Angela Mcleoad ist seit sieben Jahren als fest angestellte Helferin mit dem Zahnmobil unterwegs.
Quelle: Christian Behrens
Diese Erfahrung macht auch Henner Bunke an diesem Vormittag auf dem Raschplatz. Schon kurz nach 9 Uhr ist das provisorische Wartezimmer vor dem Kontaktladen Meckigut gefüllt. „Alle sind freundlich“, sagt der Zahnarzt, der heute ehrenamtlich mit Bohrer und Sauger im Einsatz ist. Die Behandlungen sollen den Schmerz lindern, konzentrieren sich auf das Nötigste: Löcher füllen, marode Zähne ziehen, kaputte Prothesen reparieren.
Rund die Hälfte der Patienten ist obdachlos, viele haben keine Krankenversicherung. „Es ist schon erschreckend, wie viele Menschen auch in Deutschland noch durchs Raster fallen“, sagt Dirk Ostermann, ärztlicher Leiter beim Förderverein des Zahnmobils. „Bei Prothetik-Behandlungen geraten wir an unsere Grenzen“, sagt Ostermann. „Und bei Wurzelbehandlungen müssen die Ärzte hier absolut auf den Punkt arbeiten.“ Dabei gehe es nicht vorrangig um die Kosten – „die Patienten müssten sonst regelmäßig zu mehreren Behandlungen kommen“, erläutert Ostermann. Diese Verlässlichkeit lasse sich mit einer Alkohol- und Drogensucht aber meist nicht vereinbaren.
Ob Henner Bunkes Patient in zwei Wochen wiederkommt, um seine neue Prothese zu holen? Ein freundlicher Handschlag zum Abschied besiegelt das Versprechen. „Das wird ein guter Sommer. Bald kann ich wieder lachen“, sagt der Mann – und schlendert dankbar in Richtung Bahnhof davon.
Am Raschplatz hält das Zahnmobil seit 2012.
Quelle: Carina Bahl
HAZ vom 19.03.2019, S. 15:
Unterkünfte für Obdachlose sollen besser werden
Ratspolitik beschließt neue Standards: Alleinstehende in Zweibettzimmern, mindestens zehn Quadratmeter pro Person
Von Andreas Schinkel
Obdachlose sollen in Hannover besser untergebracht werden, sowohl in Notschlafstellen als auch in Wohnheimen. Der Sozialausschuss hat am Montag auf Antrag der Mehrheitsfraktionen (SPD, Grüne, FDP) ein Paket von neuen Richtlinien beschlossen. Die Initiative kam von der CDU. Die Christdemokraten hatten die Stadtverwaltung Anfang des Jahres aufgefordert, die Akzeptanz von Obdachlosenunterkünften zu erhöhen. Hintergrund für den damaligen Antrag war der Kältetod eines Obdachlosen mitten in der City.
Tatsächlich sind die städtischen Unterkünfte bei Obdachlosen nicht besonders beliebt. In den Einrichtungen fürchten sie gewalttätige Übergriffe, Belästigungen und Diebstähle. Stattdessen schlafen manche lieber unter freiem Himmel – trotz Regen, Wind und Kälte. Das soll sich in Hannover jetzt ändern.
Mehr Platz in Unterkünften
Massenunterkünfte werden künftig ausgeschlossen. Wohnheime sollen nicht mehr als 150 Plätze haben, Häuser für betreutes Wohnen nicht mehr als 100. Familien werden auf Wunsch der Ratsmehrheit nur noch in separate Gebäude einquartiert. Alleinstehenden soll maximal ein Zweibettzimmer zur Verfügung stehen. In Wohnheimen werden pro Person mindestens zehn Quadratmeter eingeräumt, in Notschlafstellen sechs Quadratmeter. In den Unterkünften soll ein Internetzugang (WLAN) eingerichtet werden, auch die Unterbringung von Hunden müsse die Stadt prüfen, fordern SPD, Grüne und FDP.
Die Stadt achtet jetzt sorgfältiger darauf, wie eine Obdachlosenunterkunft betrieben wird. Bei der Vergabe von Betreiberverträgen solle das Betreuungskonzept deutlich stärker gewichtet werden als der Angebotspreis, fordern die Mehrheitsfraktionen. SPD, Grüne und FDP legen zudem einen Personalschlüssel für die Betreuung fest. In Wohnheimen kümmert sich künftig ein Sozialarbeiter um 33 Obdachlose, in betreuten Wohnanlagen kommen 50 Hilfesuchende auf einen Sozialarbeiter.
Leitfaden gefordert
Auch fordert die Ratsmehrheit die Stadt auf, einen Leitfaden zum Umgang mit obdachlosen Familien zu entwickeln. „Wir wollen Kindern den besten Start ermöglichen“, sagt Grünen-Fraktionschefin Freya Markowis. Die gesamten Maßnahmen trügen dazu bei, den Ruf der Unterkünfte zu verbessern.
HAZ vom 28.02.2019, S. 16:
Zwangsräumung, obdachlos – jetzt ist „Bauer“ gestorben
Trauer um Jürgen N.: Lindener verlor erst seine Wohnung und dann jegliche Lebensperspektive / Freunde und Unterstützer planen Mahnwache für 7. März
Von Tobias Morchner
Hannover.Der Fund einer Leiche am Freizeitheim Linden beschäftigt derzeit viele Menschen in dem Viertel. Am 12. Februar war der tote Obdachlose an dem Gebäude an der Windheimstraße entdeckt worden. Seine Identität war schnell geklärt, denn der Mann war im Stadtteil bekannt: Es handelt sich um den 64-jährigen Jürgen N., dessen Wohnung am Kötnerholzweg vor rund zwei Jahrenzwangsgeräumt worden war. „Seitdem hatte er alle Perspektiven verloren“, sagt Rechtsanwalt Holger Rosemeyer, der damals für den Mieterverein Jürgen N. als Mandanten übernommen hatte.
„Der Fall zeigt, dass Menschen nach einer Zwangsräumung völlig auf sich alleine gestellt sind und von niemandem Unterstützung erwarten können“, sagt Ratsherr Dirk Machentanz, der für die Partei Die Linke in dem Gremium sitzt. Er und einige andere aus der Partei hatten nach der Zwangsräumung versucht, Jürgen N. zu helfen. „Er ist immer wieder bei Bekannten und Freunden untergekommen, musste seine Bleibe aber immer wieder aufgeben“, sagt Machentanz. Der Grund: Den Helfern drohten ebenfalls Schwierigkeiten, weil sie N. aufgenommen und damit ihre Wohnungen ebenfalls untervermietet hatten. So landete Jürgen N., den seine Freunde und Bekannten meist nur bei seinem Spitzenamen Bauer nannten, schließlich auf der Straße. „Der Name stammt noch aus seiner Schulzeit, weil er schon damals ein wenig störrisch gewesen ist“, sagt Machentanz.
Umstrittene Räumung
Die Zwangsräumung vor zwei Jahrenist bis heute umstritten, denn Jürgen N. war aus der Wohnung geworfen worden, obwohl er seine Miete immer regelmäßig bezahlt hatte. N. war auf eine Scheinfirma hereingefallen. Der Hauseigentümer hatte die beiden Räume im Untergeschoss an eine Gesellschaft vermietet, die den alten Kiosk, der sich darin befand, wieder mit neuem Leben füllen sollte. Doch die Gesellschaft vermietete die Räume weiter, unter anderem an Jürgen N., kassierte dafür Geld, reichte es aber nicht an den Hauseigentümer weiter. Nach Angaben des Hausbesitzers waren so Mietschulden von rund 20 000 Euro aufgelaufen. Der Chef der Gesellschaft war bereits vor der Zwangsräumung untergetaucht. Dreimal war die Räumung angesetzt worden. Zweimal musste sie aus formalen Gründen wieder abgesagt werden. Erst beim dritten Mal musste Jürgen N. sein Zuhause räumen.
Quelle: Elsner
Mahnwache am 7. März geplant
Freunde und Bekannte des Toten hatten sich eine Woche nach dem Auffinden der Leiche zusammengesetzt, um über das weitere Vorgehen zu beratschlagen. „Wir können das nicht einfach so stehen lassen, was passiert ist“, sagt Machentanz. Am 7. März soll es vor der ehemaligen Wohnung am Kötnerholzweg eine Mahnwache zum Gedenken an den Verstorbenen geben. Das Treffen ab 17 Uhr soll auch Zeichen des Protests gegen Wohnungsnot und soziale Ungerechtigkeit sein. Das Datum ist ganz bewusst gewählt: Der 7. März ist zum einen das Datum der Zwangsräumung, es ist aber auch der Tag, an dem Jürgen N. in diesem Jahr seinen 65. Geburtstag gefeiert hätte.
HAZ vom 20.02.2019, S. 17:
"Nehmen Sie ihn mit nach Hause“
Nachbarn in der Oststadt streiten über den richtigen Umgang mit Obdachlosem / Unklar ist, wie die Stadt weiter vorgeht
Von Gunnar Menkens
Der Konflikt um einen obdachlosen Mann in der Oststadt hat sich am Dienstag fortgesetzt. Einige Nachbarn unterstützten den 59-Jährigen lange Zeit mit Lebensmitteln und Kleidung, ehe Mitarbeiter der Stadt ihm untersagten, weiter am Königinnendenkmal zu campieren. Anwohner begrüßten jetzt, dass Ordnungsamt und Polizei eingegriffen haben.
Zu ihnen gehört Alexander Ritter, der gleichzeitig diejenigen scharf kritisierte, die Hilfe leisten. „Die unmittelbaren Anwohner sind wütend über die Personen, die quasi eine Patenschaft für den Obdachlosen übernommen haben. Die negativen Folgen dieser Wegelagerei müssen nicht die selbsternannten Samariter übernehmen, sondern nur die direkten Anwohner.“
Ritter berichtet, der Obdachlose sei Alkoholiker, verdreckt, brülle meist in den Morgenstunden herum und wecke die Anwohner. In der nahen Yorckstraße erleichtere sich der Mann in den Rinnstein, Kinder würden einen Bogen um ihn machen. Ritter fürchtet, Obdachlose könnten Gefallen daran finden, mit nachbarlicher Unterstützung in Eilenriede und Wohnvierteln zu lagern. „Ich habe einen Vorschlag für alle, die diesen Obdachlosen pflegen“, sagte Ritter: „Nehmen Sie ihn mit nach Hause, und übernehmen Sie die Kosten, die aus seinem Verhalten entstehen.“
Mann lehnt Hilfsangebote ab
Der Obdachlose, der nur Englisch spricht und nach eigener Auskunft aus Israel kommt, lagert inzwischen wieder am Denkmal. Es ist unklar, wie die Stadt darauf reagiert. Campieren im öffentlichen Raum ist verboten, andererseits lehnt der Mann Hilfsangebote ab, in Notunterkünften will er nicht leben. Stadtsprecher Udo Möller sagte am Dienstag, man werde ihn erneut auffordern, den Platz zu verlassen, wenn er dort lagere und Flächen grob verunreinige: „Wir sind bestrebt, die Balance zwischen Hilfe für den Betroffenen und Durchsetzung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten.“
Einer der helfenden Anwohner ist Ferdinand Becker-Rose. Er wies die Kritik aus der Nachbarschaft ebenso scharf zurück, wie sie gemeint war. „Diese Leute disqualifizieren sich menschlich und moralisch selbst. Piekfeine Leute aus der Yorckstraße stellen ihr Privileg über die Würde eines Menschen.“ Man werde sich weiterhin um den Mann am Denkmal kümmern, aber darauf achten, dass keine „Müllinseln“ (Möller) entstünden. Becker-Rose sagte, Wasser sei wichtig, sonst drohe Gefahr, dass Obdachlose dehydrierten. „Und irgendwo muss der Mann sich ja aufhalten.“
HAZ vom 19.02.2019, S. 19:
Wo soll Tom leben? Anwohner helfen einem Obdachlosen, der sein Lager in ihrer Nachbarschaft aufgeschlagen hat. Dann muss er seinen Platz räumen, die Stadt entsorgt sein Hab und Gut – und die Nachbarn sind wütend.
Von Gunnar Menkens und Jutta Rinas
Tom* besaß ein Zelt. Manchmal baute er es als Regenschutz auf, gleich auf der Rasenfläche am Königinnendenkmal in der Oststadt. Für Passanten war nicht zu übersehen, dass sich hier jemand eingerichtet hatte. Bald kamen freundliche Nachbarn mit Dingen, die ein obdachloser Mensch gut gebrauchen kann. Kaffee, gelegentlich ein kleines Frühstück, Wasserflaschen, warme Suppe, ein Klappbett vom Sperrmüll. Dazu ein Regenschutz, neue Wollsocken und warme Winterschuhe in Zeiten bitterer Kälte der vergangenen Wochen. Eine Anwohnerin füllte zu Hause heißes Wasser in eine Wärmflasche und brachte sie zum Denkmal. Ein kleiner Zirkel kümmerte sich um den Mann dort draußen.
Seit einiger Zeit wählte Tom diesen Platz für sein Leben. Vorne sah er den Verkehr der Hohenzollernstraße, hinter ihm begann ein paar Meter entfernt die Eilenriede. An kalten Tagen lag er hier auf dem Rasen, ebenso in warmen Stunden wie am Montag, ein seltener Glückstag, 16 Grad, Sonnenschein und kein Regen. Hunderte Menschen gingen jeden Tag an ihm vorbei. Tom möchte nicht viel erzählen von sich, nur dass er aus Israel gekommen sei, im nächsten Jahr 60 Jahre alt werde, aber nicht glaube, dass er das noch feiern wird. Tom raucht, und er sagt, dass er in keine öffentliche Obdachlosenunterkunft will, lieber schläft er nachts draußen. Zum Abschied streckt er die Hand aus.
Quelle: Sylvia Petersen Heilsarmee/Rainer Dröse
„Lagerstätten gleichen Müllinseln“
Am vergangenen Donnerstag kamen Mitarbeiter des städtischen Ordnungsdienstes und der Polizei vorbei. Tom, bei Behörden seit Langem bekannt, sollte gehen. Lagern im öffentlichen Raum ist verboten, so steht es in der städtischen Satzung. „Leider gleichen die Lagerstätten des Obdachlosen mitunter Müllinseln“, sagte Sprecher Udo Möller und zählte auf: „Alte Verpackungen, diverse Lebensmittel und Essensreste in unmittelbarer Umgebung.“ Tom wurde aufgefordert zu gehen, „mit dem deutlichen Hinweis, Hab und Gut einzusammeln“ und mitzunehmen. Die Erfahrung mit dem Obdachlosen habe zudem gezeigt, dass er öfters aggressiv reagiere, wenn er aufgefordert werde, seine Plätze zu räumen.
Er ging, aber er kehrte sofort zurück. Er lag auf dem Fußweg der nahen Yorckstraße, später wieder auf der Wiese am Denkmal. „Dünn bekleidet und sogar ohne Schuhe und Strümpfe, die gesamten Habseligkeiten des armen Mannes waren verschwunden“, schrieb Anwohner Ferdinand Becker-Rose an die Stadt. Die Nachbarschaft habe erneut Regenschutz, Winterschuhe und Wollsocken gesammelt, aber am Sonnabend waren auch diese Gegenstände verschwunden. Becker-Rose legte am Montag mit einer E-Mail nach. Die Stadt habe die Sachen „entwendet“ und riskiere damit unter Umständen Toms „fahrlässige Tötung“. Becker-Rose forderte Oberbürgermeister Stefan Schostok auf, „die Angelegenheit umgehend in Ordnung bringen zu lassen“.
Die Stadt wies diese Vorwürfe zurück. Man habe Tom nichts gegen dessen Willen weggenommen. „Wenn er aber den Platz räumt und dabei Dinge liegen lässt, dann werden die entsorgt“, sagte Möller. Anders gesagt: Er ließ liegen, was Anwohner ihm schenkten. Hilfsangebote habe er stets abgelehnt.
Es gibt noch eine weitere Sicht auf Toms Geschichte. Die obdachlose Erika Heine erzählte sie, ebenfalls am Montag, am Rande des Sozialausschusses, den sie regelmäßig im Rathaus besucht. Sie sprach von einer „großen Hilfsbereitschaft“ der Nachbarn. Sie habe ihnen Ratschläge gegeben, wie man Tom helfen könnte. „Dieser Mann kommt nicht zurück ins System, seien Sie ihm eine Familie. Das heilt. Gebt ihm dieses Leben in Würde auf der Straße.“
„Wie ein halb toter Hund“
Am Sonnabendnachmittag hatten Erika Heine und Sylvia Petersen, eine Mitarbeiterin der Heilsarmee, Tom noch einmal gesehen. Sein Platz nahe des Denkmals war leer, alles sei weggeräumt gewesen. Schließlich fanden sie ihn hinter einer Hecke. Die neu geschenkten Schuhe fehlten, die teuren Strümpfe, die Decken, die Plane. Tom habe barfuß dort gelegen, Bauch und Rücken waren frei. Sylvia Petersen kam er vor „wie ein halb toter Hund“. Auch Anwohner Becker-Rose sah Tom dort liegen. Dann schrieb er seinen wütenden Brief an das Rathaus.
Erika Heine hätte einen Vorschlag: „Warum lässt man Obdachlose wie Tom nicht einfach an dieser Stelle leben?“
Quelle: Sylvia Petersen Heilsarmee/Rainer Dröse
Busshuttle bewährt sich/ Hilfe für obdachlose
Der hannoversche Shuttlebus für Obdachlose wird immer besser angenommen. Nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes waren es Mitte vergangener Wochenoch nur 18 Wohnungslose, die den Shuttle aus der Innenstadt zur Notunterkunft Alter Flughafen in Vahrenheide nutzten. Am Sonntag hatte sich die Zahl mit 33 fast verdoppelt: „Die Zahlen steigen stetig“, sagte DRK-Sprecherin Nadine Hunkert. Auch die Zahl der Obdachlosen, die die Unterkunft als Schlafplatz nutzten, sei von 90 auf 100 pro Nacht gestiegen. Bleibt es dabei, soll der Bus nach Angaben der Verwaltung möglicherweise bis Ende März fahren. Die Notschlafstelle Alter Flughafen, die größte Hannovers, bietet 150 Menschen Platz. Sie liegt so weit draußen im Gewerbegebiet, dass es bisher für viele Menschen problematisch war, sie zu erreichen. Deshalb organisiert das DRK nun, im Auftrag der Stadt, zweimal täglich den Shuttle.
Die Situation der Obdachlosen Hannovers war am Montag auch im städtischen Sozialausschuss Thema. Am Erfolgreichsten war der Dringlichkeitsantrag der CDU, in dem die Verwaltung aufgefordert wird, die Akzeptanz der Notunterkünfte bei den Wohnungslosen zu steigern. Dass manche aus Furcht vor Belästigungen, Gewalt und Diebstählen selbst bei arktischen Temperaturen draußen schliefen, könne nicht hingenommen werden, sagte Ratsherr Hans-Georg Hellmann (CDU). Ob die Verwaltung darüber nachgedacht habe, Hundezwinger aufzustellen, weil das Mitführen von Hunden verboten, für die Obdachlosen aber besonders wichtig sei, fragte Hellmann. Man sei mit der Bauverwaltung im Gespräch, sagte Sozialdezernentin Konstanze Beckedorf. Die SPD zog den Antrag in die Fraktion. Man wolle ihn mit konkreten Vorschlägen anreichern und neu stellen, sagte Ratsherr Robert Nicholls (SPD). Gegenstand weiterer Anträge war die Frage, ob es andere geeignete Orte zur Unterbringung von Obdachlosen gibt. Ratsherr Tobias Braune forderte die Einrichtung einer Obdachlosenunterkunft in der nicht genutzten U-Bahn-Station unter dem Raschplatz. Die Hannoveraner forderten zu prüfen, ob sich der Bunker unter dem Ernst-August-Platz mit seinem Platz für rund 2100 Personen eigne.
Mit einem Dringlichkeitsantrag versuchte die Gruppe Linke/Piraten die Einsatzzeiten für den Kältebus auf montags bis sonntags von 18 bis 23 Uhr auszuweiten. Darüber hinaus solle die Verwaltung prüfen, ob man den Kältebus nicht nachts einsetzen solle. Unter anderem mit Hinweis auf den Busshuttle, der Obdachlose derzeit in eine Unterkunft mit ausreichend Platz fahre, wurden alle diese Anträge mehrheitlich abgelehnt.
HAZ vom 09.02.2019, S. 17:
Marktkirche: Obdachloser tot gefunden / Wie der Mann starb, ist noch unklar
Von Tobias Morchner / Simon Benne / Peet Hellerling
Ein obdachloser Mann ist am Freitagmorgen tot an der Außenmauer der Marktkirche entdeckt worden. Nach Informationen der HAZ verständigte eine Anwohnerin den Notarzt, nachdem sie den leblosen Mann gegen 8.40 Uhr am Seiteneingang der Marktkirche entdeckt hatte. Dieser konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen.
Wie der 64-jährige Deutsche ums Leben gekommen ist, ist derzeit unklar. Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gibt es nicht. Ob der Mann möglicherweise erfroren ist oder an einer Vorerkrankung gelitten hat, dazu äußert sich die Polizei derzeit nicht. Die Ermittlungen dauern an.
Pastorin bot Hilfe an
„Wir sind erschüttert und traurig“, sagt Marktkirchenpastorin Hanna Kreisel-Liebermann. Der Mann habe sich seit mehreren Tagen in der Nähe der Kirche aufgehalten. Am Dienstag habe die Küsterin schon einmal einen Notarzt gerufen, da der Obdachlose nicht auf Ansprache reagierte. Der Mann habe aber jede Hilfe abgelehnt. „Immer wieder haben wir ihn angesprochen“, sagt Kreisel-Liebermann. Sie selbst habe ihm noch am Donnerstag gegen 17 Uhr angeboten, in die Kirche zu kommen, und gefragt, ob er Hilfe brauche. Er habe jedoch mit Lauten zu verstehen gegeben, dass er das Angebot ablehne.
Die Ratsfraktion der Linken fordert nach dem Tod des 64-Jährigen „wirksame Maßnahmen gegen die Obdachlosigkeit“ in der Stadt. „Es ist jetzt nach diesem traurigen Vorkommnis an der Zeit, niedrigschwellige Wohnprojekte wie ,Housing-First‘ schnellstens zu starten“, sagt der sozialpolitische Sprecher Veli Yildirim.
Erster Todesfall im Januar
Mitte Januar hatten Passanten einen 54-Jährigen mit Unterkühlungen am Kröpcke entdeckt und Hilfe geholt. Wie die Polizei später mitteilte, erlag der Mann in einem Krankenhaus seinen Erfrierungen. Er gilt als der erste Kältetote in diesem Jahr. Der Mann war in der Szene unter dem Namen Tommi bekannt.
HAZ vom 07.02.2019, S. 19:
Stadt testet Bus-Shuttle für Obdachlose
Notschlafstelle Alter Flughafen soll künftig von der City aus besser erreichbar sein
Von Jutta Rinas
Die Premierenfahrt ist spärlich besucht. Nur zwei Obdachlose lassen sich am Mittwochabend um 18 Uhr von dem neu eingerichteten Bus-Shuttle des Roten Kreuzes aus der Innenstadt in die Notschlafstelle Alter Flughafen bringen. Das sei zu erwarten gewesen, sagt Sozialarbeiter Markus Harre vom Trinkraum Kompass am Raschplatz, der extra noch einmal durch den Hauptbahnhof gelaufen ist, um hilfsbedürftige Wohnungslose einzusammeln: Das Angebot müsse sich erst herumsprechen. Der Bus werde in den nächsten zwei Wochen testweise täglich um 18 und 20 Uhr Obdachlose von der Haltestelle Rundestraße in die Notschlafstelle fahren, sagte Ralf Lüdtke, Bereichsleiter Unterbringung der Stadt. Man wolle sehen, wie sich das Angebot bewähre und schauen, ob es für ein Modell tauge.
Die Kälte hatte den Obdachlosen in Hannover stark zu schaffen gemacht, sie hatte sogar einen Toten gefordert. Die Notschlafstelle Alter Flughafen, nach Angaben Lüdtkes die größte Hannovers, bietet 150 Menschen Platz. Allerdings liegt sie so weit draußen im Gewerbegebiet, dass es bisher für viele Menschen problematisch war, sie zu erreichen. Daher organisiert der Betreiber nun, im Auftrag der Stadt, zweimal täglich den Shuttle. Am Tag vor der Premiere hatte die Stadt ihn durch Sozialarbeiter und mehrsprachige Aushänge in Unterkünften und Treffpunkten bekannt gemacht. Eine gute Idee sei das, sagte einer der Fahrgäste, der 45-jährige Marco. Er hätte sonst auf der Straße geschlafen.
Bislang hätten im Schnitt um die 90 Obdachlose am Alten Flughafen übernachtet, sagte DRK-Sprecherin Nadine Hunkert. Möglicherweise könne der Shuttle eine Perspektive für ein Problem vor Ort bieten, sagte Lüdtke. In der jüngeren Vergangenheit gab es an der Haltestelle „Papenwinkel“ in der Nähe der Notschlafstelle Probleme mit zum Teil stark alkoholisierten Obdachlosen. Viele fuhren morgens von der Haltestelle Richtung City, kamen abends zurück. Vahrenheider fühlten sich durch deren Verhalten belästigt. Die CDU-Fraktion forderte im Bezirksrat zu prüfen, ob in der Notschlafstelle ein Tagesaufenthalt eingerichtet werden kann. Der Prüfauftrag wurde einstimmig beschlossen.
Quelle: Behrens
HAZ vom 01.02.2019, S. 18:
„Er war ein Alleinmensch“ Wer war der Obdachlose, der vor gut einer Woche am Kröpcke erfror?
Eine Spurensuche in einer einsamen Gegend.
Von Simon Benne
Es ist nicht viel, was sie auf der Straße über Tommi wissen. Obwohl er hier gelebt hat. Es ist fast so, als hätte er sein altes Leben in einer anderen Welt zurückgelassen. „Woher er kam, weiß ich nicht, darüber hat er nicht gesprochen“, sagt Torsten. Torsten, bullige Statur, Fellmütze, Lederjacke, wird auch Papa der Straße genannt. Seit fast acht Jahren lebt er „auf Platte“, wie er sagt. Er hat Tommi gekannt, und er hat Tommi gefunden. „Er lag auf der dritten Stufe von unten“, sagt Torsten, „ich hab den Rettungswagen gerufen und ihm noch auf die Klappe gehauen, dass er aufwacht.“
Tommi ist nicht wieder aufgewacht. Der Obdachlose Thomas Heck (Name geändert) starb in der vergangenen Woche mit nur 54 Jahren an den Folgen von Unterkühlung in einem Krankenhaus. Das erste Kälteopfer des Winters, erfroren nicht in einem entlegenen Winkel, sondern im Herzen der Stadt, am Kröpcke, dort, wo die Rolltreppe zur Schlemmer-Kate hinabführt.
Thomas Heck hatte einmal ein geordnetes Leben. Nach Recherchen der HAZ arbeitete er jahrzehntelang in einem Reisebüro, er hatte eine aufgeräumte Wohnung in der Innenstadt, war verheiratet. „Der Abstieg kam schleichend“, sagt eine Frau, die Tommi schon kannte, als er noch nicht auf der Straße lebte. Sie erzählt, dass er sehr unter dem Tod seiner Frau gelitten habe. Der Kontakt zu anderen Familienmitgliedern brach ab. „Das größte Problem war der Alkohol“, sagt sie.
Schleichender Abstieg
Bei der Arbeit bekam Tommi Probleme, weil er eine Fahne hatte oder gar nicht mehr kam. Sein Arbeitgeber versuchte lange, ihn zu halten, sagt seine Bekannte. Tommi habe einen Entzug gemacht – und sei sofort wieder rückfällig geworden. Irgendwann muss er dann aufgehört haben, seine Post zu öffnen und Rechnungen zu bezahlen. Als er die Wohnung verlor, kam er zunächst noch bei Freunden unter, teils schlief er in einer Gartenlaube – und zum Schluss saß er am Kröpcke.
„Ich habe ihn liebevoll Tüten-Paul genannt“, sagt Torsten, der ihn dort kennenlernte. Das ist das Erste, was ihm zu Tommi einfällt. Das Zweite ist, dass Tommi immer zu viel getrunken hat. „Er hatte ein Alkoholproblem, das ist normal auf der Straße“, sagt der 50-Jährige. Zig mal sei Tommi ausgeraubt worden, wie viele Obdachlose. Und wenn Tommi Geld hatte, sei er ziellos mit der Bahn herumgefahren, weil es da wenigstens warm war. Zwei Tage vor seinem Kältetod habe er ihn noch getroffen, sagt Torsten, seine letzten Worte habe er noch im Ohr: „Bringst du mir einen Kurzen mit?“
Die Obdachlosen, die in der U-Bahn-Station am Kröpcke Schutz vor dem Wetter suchen, können nicht viel über Tommi berichten. Von Billigfraß habe er sich ernährt, heißt es. Manche wissen, dass er mal einen guten Job hatte. „Aber das ist lange her, und dann ist er abgestürzt“, sagt ein Mann. Viel erzählt habe Tommi nicht: „Er war ein Alleinmensch.“
Einsames Leben
Frank, der seit vier Jahren auf der Straße lebt, sagt, dass Tommi irgendwann Miete und Strom nicht mehr bezahlen konnte. Dass er mit einem Schufa-Eintrag keine Wohnung bekam und ohne Wohnung den Schufa-Eintrag nicht los wurde. „So einfach ist das“, sagt er. Es klingt, als wollte er sagen: So schnell geht das. „Wenn er was erzählt hat, wusste man aber nie, ob das auch stimmt“, sagt Frank. Es ist ja nicht so, dass viele Obdachlosen mit Erfolgsgeschichten prahlen könnten oder viel von sich preisgeben möchten. „Man kennt sich hier meist nicht so richtig“, sagt Frank. „Und wenn man wen kennenlernt, gibt‘s doch bald Streit um eine Pulle Schnaps oder so. Irgendwas ist immer.“
Es ist fast paradox: Zum Leben auf offener Straße gehört die Anonymität; man weiß teils wenig voneinander. Sozialarbeiter arbeiten in Treffpunkten wie dem Kontaktladen Mecki oder dem Kompass auch daran, die Vereinsamung aufzubrechen. Doch dort war Tommi eher ein flüchtiger Bekannter.
Beziehungslosigkeit und Einsamkeit kennzeichnen das Leben vieler Obdachloser. „So etwas kann Teil des Überlebenskampfes sein“, sagt Norbert Herschel, Leiter der Wohnungslosenhilfe der Diakonie. Wenn das Denken darum kreist, wo man die nächste Nacht verbringt, bleibt manchmal wenig Raum für die Pflege von Freundschaften oder für die Reflexion der eigenen Biografie. „Das Heute ist oft wichtiger als die Vergangenheit“, sagt Herschel. Dann bleibt jeder mit seiner Geschichte allein. Im Fall von Tommi bis in den Tod.
Quelle: Benne
Gedenkstunde für erfrorenen Obdachlosen
Auf dem Kröpcke versammelten sich Bekannte des Opfers, um auf die Situation von Wohnungslosen aufmerksam zu machen.
Hannover. Gut eine Woche nach dem Tod eines 54-jährigen Obdachlosenversammelten sich Bekannte des Verstorbenen zum Gedenken am Kröpcke. Mit Plakaten und Blumen schmückten sie die Uhr auf dem belebten Platz. Mit der Aktion wollten sie Aufmerksamkeit auf die Situation der Obdachlosen in Hannover lenken.
„Es ist schade, dass so etwas erst passieren muss und nicht schon vorher gehandelt wird“, sagte Jennifer Heilmann, die die Gedenkaktion organisiert hat. Sie lebte selbst sechs Jahre auf der Straße und kannte den Verstorbenen. Die Nachricht von seinem Tod habe sie sehr erschüttert. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es mir in kalten Winternächten ging“, sagte die 29-Jährige. „Beim Einschlafen habe ich gedacht: Hoffentlich lebe ich morgen noch.“
Jennifer Heilmann hat auch sechs Jahre auf der Straße gelebt. Nancy Heusel
Die kleine Aktion sollte Passanten auf den Tod des 54-Jährigen aufmerksam machen und zum Helfen animieren. „Schaut nicht weg“, „112 anrufen und ihr rettet Leben“ oder „Muss das sein?“ stand auf den Plakaten, die Heilmann mitgebracht hatte. Viele Menschen würden einfach wegsehen und sich um die Gesundheit der Obdachlosen nicht kümmern, sagte Heilmann. „Manchmal reicht es einfach zu fragen, ob es einem gut geht.“
20 Trauergäste am Kröpcke
Etwa 20 Bekannte des Opfers waren gekommen, auch zwei Ehrenamtliche von der Obdachlosenhilfe. Sie kannten das Opfer. Sein Tod habe sie tief erschüttert. „Ich verstehe nicht, warum Kirchen oder öffentliche Gebäude ihre Türen erst öffnen, wenn etwas passiert ist“, sagte Rebecca Flügel. Die Marktkirche hatte knapp eine Woche nach dem Tod des Obdachlosen auf die Minustemperaturen reagiert und Schlafplätze angeboten. Mehr als 60 Obdachlose hatten das Angebot wahrgenommen.
Karina Makrygiannis und Rebecca Flügel engagieren sich bei der Obdachlosenhilfe.
„Das Problem ist, dass in den Obdachlosenunterkünften keine Tiere mit hineinkönnen“, sagte Flügel. Darum würden viele Wohnungslose auch bei eisigen Temperaturen draußen schlafen. „Da muss die Stadt endlich ein Angebot schaffen“, forderte die Ehrenamtliche. Insgesamt würden etwa 150 Menschen in Hannover jede Nacht auf der Straße schlafen. Es sei furchtbar, dass man heute um einen von ihnen trauern müsse.
Quelle: Heusel
HAZ vom 26.01.2019, S. 18:
Der Kampf gegen den kalten Tod auf der Straße
Suppe, Tee, warme Decken: Mit Kältebussen versorgen Helfer Menschen, die auf der Straße unter eisigen Temperaturen leiden / Marktkirche öffnet Türen
Von Simon Benne
Bedächtig legt er die Finger um seinen Plastikteller mit Tomatensuppe. Ein kalter Wind weht über den Raschplatz, es sind zwei Grad unter null. „Das tut gut, wenn man sich von innen aufwärmen kann“, sagt der Mann, den hier alle nur Delle nennen. Der 55-Jährige ist einer der Obdachlosen, die zum Kältebus der Malteser gekommen sind. An jedem Donnerstag macht dieser hier Station; ein halbes Dutzend ehrenamtliche Helfer verteilt Suppe und Tee. „Dass es so etwas gibt, ist wirklich ein Segen“, sagt Delle dankbar.
Viele der Gäste, die sich an diesem Abend am Kältebus drängen, können Geschichten von verlorenen Jobs erzählen, von zerbrochenen Träumen, von Drogen, Knast und dem Leben auf der Straße. Delle schläft momentan unter der Rolltreppe am Kröpcke. Nicht weit davon ist Anfang der Woche ein 54 Jahre alter Mann erfroren. Delle hat ihn gekannt. „Das kann schnell passieren, wenn man Alkohol getrunken hat“, sagt er, während er seine Suppe löffelt.
Das Leben auf der Straße ist in diesen Zeiten ein ständiger Kampf gegen den kalten Tod, und dass einer von ihnen diesen Kampf verloren hat, beschäftigt die Obdachlosen am Kältebus. „Dass ein Mensch auf der Straße erfriert, das dürfte es in Deutschland nicht geben“, sagt ein 58-Jähriger mit Strickmütze. „Das Interconti steht doch gerade leer – warum öffnet die Stadt das nicht nachts?“ Ein anderer murmelt beifällig: „Man fragt sich schon, wer wohl der Nächste ist.“
„Wir behandeln nur Symptome“
Die Malteser haben mehr als 50 Liter heiße Suppe in ihrem Bus, dazu kiloweise Brot, und bei Bedarf bekommen Obdachlose hier auch Decken, einen Schlafsack oder warme Socken. „An jedem Abend kommen etwa 80 Gäste zu uns auf den Raschplatz oder zum Kröpcke – und wir werden alles los“, sagt Projektleiter Markus Stottut. Der Bedarf sei groß. „Wir können Probleme allerdings nur lindern, wir schaffen sie nicht aus der Welt. Das ist reine Symptombehandlung“, sagt der 29-Jährige.
Im Wechsel schicken Johanniter, Caritas und Malteser täglich von montags bis freitags Kältebusse durch die Stadt. Allein bei den Maltesern engagieren sich 25 Ehrenamtliche. Einer von ihnen ist Thomas Mohrbacher. Seit der 59-Jährige Frührentner ist, hat er Zeit für das Engagement. „Unsere Gäste sind ausgesprochen freundlich, es gibt nie Gedränge“, sagt er und schenkt Karsten einen Kaffee ein. Karsten ist Dauergast bei den Kältebussen; er unterhält sich gerne mit den Helfern: „Das sind echt korrekte Menschen – und so was Zwischenmenschliches baut Stress ab.“
Die Marktkirche hat in dieser Nacht ihre Türen für Obdachlose geöffnet. Ein Dutzend Männer und Frauen hat Schlafsäcke unter der Orgelempore ausgerollt, es gibt heißen Tee und Kekse. „Natürlich ist das keine Lösung, sondern nur eine Notfallmaßnahme“, sagt Pastorin Hanna Kreisel-Liebermann. Im Mittelgang schläft Schäferhündin Leica. „Mit ihr darf ich nicht in die städtischen Unterkünfte“, sagt ihr Besitzer Johnny, „aber dort wird man sowieso krank, und man wird beklaut.“
Die Diakonie schätzt, dass mehr als 400 Menschen in Hannover auf der Straße leben – Tendenz steigend. Viele kommen aus Osteuropa. Rund 2700-mal wurden Obdachlose im Kontaktladen Mecki im vergangenen Jahr medizinisch versorgt, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes: „Seit der Ordnungsdienst unterwegs ist, sieht man zwar weniger Obdachlose in der City“, sagt er. „Sie werden aber nur an die Ränder gedrängt – und sind nach wie vor da.“
Die Marktkirche wird auch in der Nacht zum Sonntag für Obdachlose geöffnet sein. Das DRK hat die Öffnungszeiten der Notschlafplätze im früheren Möbelmarkt an der Straße Alter Flughafen ausgeweitet. Darüber hinaus gibt es Notschlafplätze im Vinnhorster Weg 73 A speziell für Frauen, in der Langensalzastraße 17 für Frauen mit Kindern und in der Wörthstraße 10 für Männer. Die Notschlafplätze können von 17 Uhr bis 9 Uhr in Anspruch genommen werden. Eine vorherige Anmeldung ist nicht erforderlich.
Quelle: Elsner
HAZ vom 26.01.2019, S. 18:
Was hilft Hannovers Obdachlosen? Der Kältetote am Kröpcke muss ein Einzelfall bleiben.
Aber wie geht das? In Hannover suchen viele Initiativen nach Antworten. Ein Stichwort ist immer öfter Housing First. Nur die Verwaltung schläft. Das darf nicht so bleiben, meint Jutta Rinas
Am Ende hat dem Obdachlosen, der in Hannover am Montag einen Kältetod sterben musste, nichts geholfen. Nicht die Tatsache, dass es in seiner Nähe, in der U-Bahn-Station Kröpcke, geschützte Schlafplätze gab. Nicht, dass ein Passant alles richtig machte, als er den Mann am Café Mövenpick fand. Er rief den Rettungsdienst, nachdem er festgestellt hatte, dass der Mann nicht mehr ansprechbar war. Er tat, was Hilfsorganisationen empfehlen, wenn Bürger bei Minustemperaturen helfen wollen: ansprechen, Kontakt aufnehmen, und, falls die Person nicht mehr „Herr ihrer Sinne“ ist, Polizei oder Rettungsdienst rufen.
Für jenen Mann, den Bekannte offenbar „Tommi“ nannten, kam diese Hilfe zu spät. In Hannover soll es in diesem Winter überdies um 30 Prozent mehr Obdachlose auf der Straße geben. Das macht die Frage umso drängender: Was kann man tun? Die gute Nachricht ist: In Hannover suchen bemerkenswert viele Initiativen nach der Antwort. Die Niedergerke-Stiftung, die Johann Jobst Wagenersche Stiftung, viele andere. Freiwillige sammeln Kleiderspenden, schenken Suppen aus, die Marktkirche öffnet ihre Tore. Die Armut hat zugenommen, die Hilfsbereitschaft auch. Man kennt das aus Hannover, von der Flüchtlingskrise, auch von der HAZ-Weihnachtshilfe.
Dazu macht ein neuer Hilfsansatz, Housing First, von sich reden. Housing First bedeutet, man gibt Obdachlosen ein Dach über dem Kopf, bevor man sich um anderes kümmert. In anderen Städten ist dieser Ansatz erfolgreich. In Hannover hat die evangelische Landeskirche ihm folgend ein Mini-Modulhaus (Tiny House) gebaut. Vom Verein Little Home stammt eine spartanischere Variante. Auch die neue Stiftung Ein Zuhause, ein Bündnis sozialer Einrichtungen mit vielen Freunden in der Politik, will Wohnraum für Obdachlose kaufen, selber bauen. Man hofft auf Spenden, Vermächtnisse von Häusern, Wohnungen. „Es gibt eine große Bereitschaft in der Gesellschaft, die Notlücke auf dem Wohnungsmarkt zu erkennen“, heißt es dort. Nur die Bereitschaft der Verwaltung, solche Konzepte zu stützen, fehlt bislang. Stattdessen wird gemauert, werden Ideen einfach abgeschmettert, wie unlängst im Sozialausschuss der Auftrag des Mehrheitsbündnisses, ein Pilotprojekt für Housing First zu entwickeln. Statt einen einzigen konstruktiven Gedanken zu entwickeln, wurde in einer Drucksache seitenweise der Status quo durchdekliniert, beim Vortrag der Dezernentin herrschte zeitweilig eisiges Schweigen aufseiten der Politik.
Nun ist Housing First sicher nicht die Lösung aller Probleme. Es steht aber für das Engagement und die Kreativität, die Hannovers Bürgerschaft im Kampf gegen Armut auszeichnen. In der Verwaltung fehlt beides schmerzlich. Dabei wird es darauf in Zukunft bei der Not auf dem Wohnungsmarkt ankommen. Denn die Obdachlosigkeit steigt – und damit das Elend dieser Menschen. Der furchtbare Kältetod des Obdachlosen Tommi macht das nur auf besonders tragische Weise deutlich.
HAZ vom 25.01.2019, S. 18:
Marktkirche öffnet für Obdachlose
Bödekersaal wird zur Notunterkunft
Angesichts der anhaltenden Kälte und des aktuellen Falles eines an den Folgen einer Frostnacht im Freien gestorbenen Mannes hat die Marktkirche ihre Pforten für Obdachlose geöffnet. „Wir öffnen sie als Notunterkunft für Menschen, die sonst keine Unterkunft finden“, erklären Marktkirchenpastorin Hanna Kreisel-Liebermann und Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Seit gestern steht der Bödekersaal im Untergeschoss der Kirche von 20 Uhr an Obdachlosen offen.
Schon im vergangenen Jahr hatte die Kirche den Saal Obdachlosen als Notquartier zur Verfügung gestellt. „Es ist klar, dass das Problem der Wohnungslosen damit nicht gelöst ist“, sagt Kreisel-Liebermann, „doch im vergangenen Jahr war es für diejenigen, die nachts da waren, doch eine Hilfe.“
In Hannover gibt es rund 4000 Wohnungslose, also Menschen, die teils provisorisch bei Verwandten oder Bekannten unterkommen. Auf etwa 400 schätzen Experten die Zahl der Obdachlosen, die dauerhaft auf der Straße leben.
Es gibt für sie mehrere Unterkünfte, doch nicht alle nutzen sie, sondern schlafen teils unter Brücken. Auch in der U-Bahn-Station Kröpcke gibt es einen Bereich, in dem Obdachlose schlafen können.
HAZ vom 24.01.2019, S. 15:
Obdachloser erfriert am Kröpcke
54-Jähriger ist erstes Kälteopfer seit Jahren / Ordnungsdienst der Stadt weist Wohnungslose auf Schlafmöglichkeiten hin / Zentrale U-Bahn-Station bleibt nachts geöffnet
Von Ingo Rodriguez und Jutta Rinas
Ein 54-jähriger Obdachloser ist nach einer Nacht im Freien am Kröpcke an den Folgen der Unterkühlung gestorben. Es gebe keine Anzeichen für eine Fremdeinwirkung oder ein Fremdverschulden, sagt ein Polizeisprecher. Es handelt sich bei dem Fall nach Angaben der Stadt um den ersten Kältetoten seit Jahren – genauere Angaben machte die Verwaltung nicht.
Bereits am Sonntagmorgen hatten Passanten gegen 9 Uhr Rettungskräfte alarmiert, weil sie den hilflosen Mann im Bereich des Mövenpick-Restaurants entdeckt hatten. Weil die Einsatzkräfte bei dem Obdachlosen erheblichen Alkoholeinfluss und Erfrierungserscheinungen festgestellt hatten, wurde er in ein Krankenhaus gebracht. Dort starb er am Montagmorgen an der Folgen der Unterkühlung.
Wintereinbruch ist gefährlich
Der jüngste Wintereinbruch bringt Obdachlose zunehmend in Gefahr: Die Kälte ist für viele von ihnen besonders in der Nacht problematisch. Denn: Notschlafplätze sind für die Betroffenen oft schwer erreichbar. Zudem ist die Zahl der Obdachlosen im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent gestiegen.
Trotz des Todesfalls hält die Stadtverwaltung einen Wachdienst, der nachts an Schlafplätzen von Obdachlosen auf der Straße nach dem Rechten schaut und hilflose Menschen ins Krankenhaus bringt, für nicht praktikabel. Das Gebiet, das man absuchen müsse, sei viel zu groß, sagte ein Stadtsprecher. Wenn der Ordnungsdienst tagsüber Obdachlose antreffe, die gegen das Verbot von Schlafen und Lagern auf öffentlichen Plätzen verstießen, würden sie auf das Verbot hingewiesen und gerade im Winter und bei Kälte mündlich und mit Hinweiszetteln über die Hilfsangebote und Übernachtungsmöglichkeiten der Stadt informiert.
Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes sieht hier noch Verbesserungsbedarf. „Wir müssen bei Informationen für Obdachlose noch besser werden“, sagt Müller-Brandes. Das zeige der tragische Todesfall deutlich. In der U-Bahn-Station Kröpcke hätte es einen geschützten Schlafplatz für den Mann gegeben, das habe er möglicherweise nicht gewusst. „Bislang erreichen wir nicht alle, und das ist bitter genug“, sagt Müller-Brandes. Im Stadtgebiet gebe es etliche Einrichtungen und Organisationen, die für Obdachlose Unterkünfte anbieten.
HAZ vom 22.01.2019, S. 18:
Wintereinbruch bringt Wohnungslose in Gefahr
Rund 30 Prozent mehr Obdachlose im Vergleich zum vergangenen Winter / Kältebusse weiten ihr Angebot aus / Notschlafplätze oft schwer erreichbar
Von Susanna Bauch
Philipp hat kein Alkoholproblem, der 20-Jährige hat ein Familienproblem. „Es klappt zu Hause einfach nicht, ich habe schon viermal auf der Straße gelebt“, sagt der junge Mann mit der modischen Brille aus Bayern, der gerade erst in Hannover angekommen ist. Sein Lager hat er in der Bahnhofstraße in der Nähe des Kröpcke aufgeschlagen. „Leider hat mir irgendwer meine Isomatte geklaut, das dürfte ungemütlich werden bei dem Wetter.“
Quelle: Kutter
Tagsüber Dauerfrost und bitterkalte Nächte mit bis zu zweistelligen Minusgraden: Der Wintereinbruch bedeutet derzeit für viele Obdachlose in Hannover eine echte Gefahr. In Berlin ist am Wochenende ein Wohnungsloser tot auf einer Parkbank aufgefunden worden, in Hannover werden die Hilfsangebote für die Menschen ohne Dach über dem Kopf angeschoben. Johanniter, Malteser und Caritas haben ihr Angebot bezüglich der Einsätze von Kältebussen aufgestockt – mittlerweile sind die Fahrzeuge von montags bis freitags zwischen 17 und 20 Uhr vornehmlich rund um den Raschplatz und den Kröpcke unterwegs.
„Wir verteilen nicht nur Schlafsäcke, Isomatten sowie heiße Getränke und Mahlzeiten, sondern leisten vor Ort auch soziale Arbeit“, betont Ramona Pold von der Caritas. Das bedeute, die Wohnungslosen auch mit Informationen zu versorgen – von Adressen der Notunterkünfte bis zu Anlaufstellen für Beratung oder im Krankheitsfall. „Wir schätzen, dass in diesem Winter bis zu 30 Prozent mehr Wohnungslose auf Hannovers Straßen unterwegs sind“, sagt Pold. Viele von ihnen stammen aus Lettland und Polen, aber auch etliche Deutsche gehören zu der Gruppe der Obdachlosen. Viele Betroffene wollen bereits am frühen Abend eine Unterkunft aufsuchen, „die Nacht auf der Straße ist für die meisten keine Option“, so Pold. Allerdings seien auch immer mehr Menschen mit Tieren ohne Bleibe. „Und da etwa Hunde in den Notunterkünften nicht gestattet sind, müssen die Halter auch die Nächte draußen verbringen.“
Quelle: Kutter
So geht es Moni, die ihren Hund in Hamburg zurückgelasssen hat, weil er in keine Unterkunft durfte. Zusammen mit ihrem Freund hat sie ihr Gepäck bereits in einer Nische neben einem Geschäftseingang in der City abgestellt. „Allein würde ich niemals draußen schlafen.“ Claudia muss oft allein auf der Straße übernachten. Die junge Frau ist drogenabhängig, „da kommt man nirgends rein“. Und auch wenn sie nichts konsumiert habe, seien die Schlafplätze für Frauen schnell vergeben. „Ich habe nicht einmal mehr Schlafsack oder Isomatte.“ Die letzten vier Wochen hat sie mit verschleppter Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen – „wenigstens warm und trocken“.
Quelle: Kutter
Die Zentrale Beratungsstelle Wohnungslosenhilfe der Diakonie geht von rund 400 Menschen aus, die derzeit auf der Straße leben – etwa 4000 sind ohne feste Bleibe. Die Stadt hat zwar eine zusätzliche Unterkunft am Alten Flughafen in Vahrenheide mit 150 Plätzen für alle Personengruppen eingerichtet, viele Obdachlose aber scheuen Mehrbettzimmer und die damit verbundene Angst vor Übergriffen und Diebstahl.
Weit weg vom Schuss
Im Tagestreff Kompass an der Lister Meile weiß Sozialarbeiter Markus Herre, wer in dieser kalten Nacht irgendwo in der Stadt „Platte“ machen muss. „Wir haben viel zu wenig Fahrkarten für die Leute, die nach Vahrenheide fahren könnten.“ Er plädiert für einen Shuttle oder eine andere organisierte Mitfahrgelegenheit in die Notunterkünfte. „Viele sind nicht in dem Zustand, eigenständig dorthin zu gelangen“, so Herre. Die Notobdachstelle sei einfach zu weit weg vom Schuss.
Seit Januar rollt der Bus der Caritas bis zum Ende der kalten Nächte jeweils am Dienstag, die Malteser fahren donnerstags zu den Obdachlosen der Stadt. Da die Johanniter mit ihrem Kältebus an den anderen Abenden auf Tour sind, ergibt sich eine lückenlose Hilfe von montags bis freitags. Während die Malteser mit einem Mannschaftswagen und ausgebildeten Sanitätern in die Kälte fahren, hat die Caritas neben Ehrenamtlichen auch einen syrischen Arzt als Helfer mit an Bord. Die Caritas setzt bei ihren Ehrenamtlichen auch auf ehemalige Obdachlose, die sich engagieren möchten und den Zugang zu den Hilfsbedürftigen erleichtern.
„Es ist wichtig zu wissen, dass wir mit den Bussen keine Obdachlosen einsammeln“, betont Pold. „Wir versorgen die Betroffenen vor Ort.“ Die Caritas hat jetzt zusätzlich die Öffnungszeiten im Tagestreffpunkt für Wohnungslose ausgeweitet und werktags bereits ab 7 Uhr geöffnet. „Der Winter 2017/2018 hat uns gezeigt, wie sehr diejenigen, die kein festes Zuhause haben, unter den kalten Temperaturen leiden. Diese Situation möchten wir nicht noch einmal erleben“, erklärt Andreas Schubert, Vorstand des Caritasverbandes in Hannover. „Die Menschen auf der Straße brauchen unsere Hilfe.“
In den städtischen Anlaufstellen in Hannover sind derzeit rund 1246 Obdachlose untergebracht. Notschlafplätze für Männer und Frauen würden vorgehalten, die Zahl der Belegung variiere allerdings von Nacht zu Nacht. „Die Stadt hält Notschlafplätze vor, in denen Obdachlose – ohne die für die anderen Unterkünfte erforderliche Zuweisung – übernachten können“, sagt Stadtsprecherin Michaela Steigerwald. Notschlafplätze gebe es derzeit in den Unterkünften Wörthstraße 10 (36 Plätze), Vinnhorster Weg 73a (für Frauen), Langensalzastraße 17 (Frauen mit Kindern, neun Plätze) sowie am Alten Flughafen. „Aufgrund der derzeitigen Kälte wurden die Öffnungszeiten von 17 bis 9 Uhr ausgeweitet“, erklärt Steigerwald.
„Jeder kann Obdachlosen helfen“
Wer draußen schläft, sucht sich Wärmeschächte, Hauseingänge oder steigt in die Tiefen der U-Bahn-Station Kröpcke hinab, um seinen Schlafsack auszurollen. Der Zentralen Wohnungslosenhilfe zufolge kann jeder Bürger insbesondere in den kommenden Tagen und Nächten den Obdachlosen helfen. Wichtig sei dabei, nicht einfach eine Geldspende zu geben, sondern den direkten Kontakt zu suchen. So kann man etwa nachfragen und die Betroffenen beispielsweise auf eine gemeinsame Erbsensuppe oder einen Cappuccino einladen.
Voraussetzung ist, aufmerksam durch die Stadt zu laufen, um Hilfsbedürftige auch wahrzunehmen. Helfer sollten versuchen, die Situation und Hilflosigkeit der Betroffenen einzuschätzen, die Ansprechbarkeit prüfen und gegebenenfalls Hilfe rufen, rät die Wohnungslosenhilfe. Über die Notrufnummern 110 sowie 112 können professionelle Retter informiert werden. Bis diese eintreffen, sollte man bei dem betroffenen Menschen bleiben. sub
HAZ vom 14.01.2019, S. 10:
Stadt quartiert Romafamilien nun doch schneller um
Notunterkunft in der Alten Peiner Heerstraße wird schon Ende Januar
abgerissen / Roma beziehen in dieser Woche neue Unterkunft in der List
Von Jutta Rinas
Hannover. Überraschende Wende im Fall der Notunterkunft Alte Peiner Heerstraße: Die obdachlosen Romafamilien, die in der Containeranlage unter erbärmlichen Zuständen leben müssen, werden deutlich früher als geplant umquartiert. Bereits am Dienstag dieser Woche können sie nach Angaben der Stadtverwaltung in eine neue Unterkunft in der Podbielskistraße 115 in der List umziehen.
Abriss schon 2009 geplant
Ursprünglich hatte es geheißen, dass sie frühestens im Herbst 2019 in eine neue Modulanlage 150 Meter entfernt von der alten umquartiert werden könnten. Deren Fertigstellung verzögert sich wegen gravierender Baumängel seit vielen Monaten. Die Unterkunft Alte Peiner Heerstraße selbst soll Ende des Monats abgebaut werden. Der Schritt kommt eigentlich zehn Jahre zu spät: Ein Abriss der Unterkunft wegen schwerer Baumängel war erstmals 2009 geplant.
Die HAZ hatte Ende Dezember über die Unterkunft berichtet. Neben baulichen Mängeln war sie von trostlosen hygienischen Zuständen – Sperrmüll, Dreck, Befall von Ungeziefer – geprägt. Besonders bedrückend: Dort leben neben zwölf Erwachsenen auch 23 Kinder.
In Folge der Berichterstattung hatten Politiker verschiedener Fraktionen bei der Verwaltung interveniert. „Die Menschen müssen dort schnellstmöglich raus“, sagte etwa Freya Markowis, Fraktionschefin der Grünen, dieser Zeitung. Ähnliches war von CDU, SPD, FDP und der Gruppe Linke/Piraten zu hören. Andere Stimmen, unter ihnen viele HAZ-Leser, hatten kritisiert, dass die Bewohner selber mehr tun könnten, um ihre Unterkunft sauber und frei von Müll zu halten (siehe Kasten).
Die Unterkunft Alte Peiner Heerstraße ist überdies Gegenstand diverser Anträge in den Januar-Sitzungen in Bezirksrat und Bauausschuss. Es sei eine gute Nachricht, dass die Roma jetzt umgesiedelt würden, sagte der baupolitische Sprecher der CDU, Felix Semper. Erstaunlich sei, dass der Umzug, der sich anderthalb Jahre zu verschleppen drohte, nach öffentlichem Druck plötzlich innerhalb weniger Tage möglich geworden sei. Es bestehe weiter Aufklärungsbedarf, auch wegen der Bauverzögerungen in der neuen Anlage Alte Peiner Heerstraße.
Es habe sich in der Podbielskistraße 115 „kurzfristig eine Lösung zur Unterbringung gefunden“, da jetzt ein Betreiber zur Verfügung stehe, teilte eine Stadtsprecherin am Freitag überraschend mit. Tatsächlich steht diese Unterkunft – wie berichtet – seit mehr als einem Jahr ungenutzt leer. Nach Informationen der HAZ wurde sie wie die Unterkünfte in Steigertahl- und Dorotheenstraße sogar bereits 2016 vom Architekturbüro Mosaik fertiggestellt.
Unterkunft für Flüchtlinge
Die beiden anderen Unterkünfte wurden 2016 bezogen. Die Errichtung der Unterkunft Podbielskistraße habe wegen der Erschließung über einen neuen Stichweg deutlich länger gedauert, sagte die Verwaltung auf HAZ-Anfrage. Zudem sei sie für Flüchtlinge bestimmt gewesen, eine Umnutzung für Obdachlose sei erst im Juni 2018 vom Rat beschlossen worden. Erst danach habe das Vergabeverfahren für den Betrieb durchgeführt werden können. Dies sei jetzt – ein halbes Jahr später – noch nicht abgeschlossen.
Diese Regeln gelten für städtische Notunterkünfte
Kommunen müssen Obdachlose in menschenwürdigen Unterkünften unterbringen. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Wenn die Verwaltung erfahre, dass Unterkünfte nicht menschenwürdig seien, müsse sie Probleme kurzfristig beseitigen oder die Bewohner in anderen Unterkünften unterbringen, bestätigt die Stadt auf HAZ-Anfrage. Im Fall der Alten Peiner Heerstraße richtete der zuständige Bezirksrat bereits Ende 2015 wegen menschenunwürdiger Zustände öffentlich einen dringenden Appell an die Stadt.
Fest geregelt ist nach Angaben der Verwaltung auch, wer in einer Obdachlosenunterkunft für Hygiene und Sauberkeit verantwortlich ist. Die Unterkunft in der Alten Peiner Heerstraße war bei einem Besuch der HAZ Ende 2018 nicht nur von baulichen Mängeln, sondern auch von herumliegendem Sperrmüll, Spielzeug, Dreck, geprägt. Dazu haben uns viele Zuschriften erreicht, in denen Leser fordern, dass Bewohner selbst zu Eimer, Besen und Lappen greifen sollen. Nach Angaben der Stadt sind die Obdachlosen für ihre Zimmer zuständig, nicht jedoch für Flure, Gemeinschaftsküchen oder -bäder. Wenn sie Müll oder Sperrmüll nicht beseitigen, muss der Betreiber tätig werden. Dazu gibt es einen Hausmeister, Sozialarbeiter, Wachdienst und Reinigungspersonal.
HAZ vom 05.01.2019, S. 7:
Osteroder Tafel stellt Betrieb ein
Osterode. Wegen Personalmangel muss die Osteroder Tafel erstmals seit ihrer Gründung im Jahr 2005 ihren Betrieb unterbrechen. Vom heutigen Sonnabend bis zum Freitag, 11. Januar, würden keine Lebensmittel an Bedürftige ausgegeben, sagte eine Sprecherin der Einrichtung.
Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafel hätten die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht, hieß es. Krankheitsbedingte Ausfälle hätten die Situation noch verschärft. Besonders schwierig gestalte sich der Transport der Lebensmittel von den Supermärkten zur Tafelzentrale in Osterode sowie die Auslieferung an die Außenstellen Bad Lauterberg, Barbis, Scharzfeld, Duderstadt, Gieboldehausen und Bad Grund.
Außer für den Fahrdienst würden auch Helfer für das Sortieren der Lebensmittel benötigt. Die Osteroder Tafel versorgt insgesamt rund 1200 Personen.
HAZ vom 04.01.2019, S. 18:
Helene-Fischer-Hits in der Containerunterkunft
Erzieherin Petra Pfahl betreut im Ruhestand täglich Flüchtlingskinder in Groß-Buchholz und bringt ihnen die deutsche Sprache näher
Von Susanne Bauch
Warum die Kinder in Hannover sind, ob sie eine Chance auf ein Bleiberecht oder Asyl haben und woher sie stammen? All das interessiert Petra Pfahl höchstens am Rande. Die pensionierte Erzieherin möchte sich einfach um „ihre“ Flüchtlingskinder kümmern, mit ihnen Dinge unternehmen, die Spaß machen, und außerdem dafür sorgen, dass sie Deutsch lernen. Für die Jungen und Mädchen zwischen zwei und sechs Jahren ist die 64-Jährige seit einem Jahr fast täglich in der Flüchtlingsunterkunft Baumschulenallee in Groß-Buchholz – und alle lieben Petra dort.
Das Kinderzimmer im Container an der Baumschulenallee ist liebevoll eingerichtet und ausgestattet. Bücher und Spiele stapeln sich in den Regalen, in einer Ecke steht ein gut bestückter Kaufmannsladen, die Kindertische und -stühle sind bunt lackiert, Decken und Hussen kindgerecht gestaltet. „Ich habe hier sehr viel selber gemacht“, sagt Petra Pfahl. Allerdings habe es auch regelmäßig jede Menge Spenden gegeben. Der Bezirksbürgermeister Henning Hofmann hatte die bereits im Stadtteil sehr engagierte Erzieherin angesprochen und von dem Flüchtlingsheim berichtet, in dem viele kleine Kinder unterschiedlichen Alters ohne Betreuung und Spielangebot untergebracht seien. „Da habe ich einfach losgelegt, Räume organisiert, eine Wunschliste an Möbeln, Geschirr und Spielzeug erstellt und an Nachbarn sowie Freunde verteilt“, erzählt Pfahl. Daraufhin wurden reihenweise Keller und Schränke geplündert und Nützliches zur Unterkunft gebracht. Spenden von Büchern und Spielsachen reißen bis heute nicht ab und stapeln sich in der Wohnung von Petra Pfahl. „Ich habe oft eine Wundertüte vor meiner Tür mit besten Wünschen für die Kinder.“
Quelle: Kutter
Schlechter Ruf? Zu Unrecht!
„Es ist unglaublich, was die Leute hier auf die Beine gestellt haben“, sagt die 64-Jährige. Im Roderbruch seien die Menschen durchaus offen und aktiv, in den letzten Jahren sei eine richtige „Dorfgemeinschaft“ entstanden. Der Stadtteil habe zu Unrecht einen schlechten Ruf. „Und gemeinsam für Kinder da zu sein fällt kaum jemandem schwer.“
Petra Pfahl stammt aus Hamburg, hat Jahrzehnte als Erzieherin gearbeitet, zwischenzeitlich im Rheinland, die meiste Zeit aber in Hannover und der Region. Sprachförderung und Literatur waren stets ihre Schwerpunkte, und genau darauf legt sie auch bei den Flüchtlingskindern großen Wert. „Die Mädchen und Jungen müssen schnell lernen, sich auszudrücken und zu verstehen. Dann haben sie viele Chancen, Deutsch ist die Überlebenssprache hier für die Kinder“, meint die 64-Jährige, die selber zwei Kinder und drei Enkel hat.
Jeden Vormittag kommt Petra Pfahl in das hübsche Kinderzimmer, die Jungen und Mädchen warten dann schon auf sie. „Vor allem für diejenigen, die noch nicht in der Schule sind und keinen Kita-Platz haben, ist die Betreuung sehr wichtig“, sagt Pfahl. Sie setzt sich derzeit vehement dafür ein, dass eine Erzieherstelle in jeder Flüchtlingseinrichtung mit Familien geschaffen wird. „Erwachsenen wird alles angeboten, aber Kinder brauchen auch Unterstützung, sie müssen aufgefangen werden.“ Von den Eltern könnten sie die Sprache nicht adäquat erlernen, zudem kämen sie auch zeitlich oft zu kurz. Immer wieder betreut Petra Pfahl den Nachwuchs auch, während die Eltern Sprachunterricht haben. „Das geht aber nicht immer nur im Ehrenamt, wir benötigen angestellte Erzieher.“ Aus Haftungsgründen könne sie als Ehrenamtliche etwa keine Ausflüge mit den Kindern machen, was aber eine wichtige Bereicherung für den kindlichen Alltag sei.
Nachfolger gesucht
Eigentlich möchte Petra Pfahl sich bald richtig in den Ruhestand verabschieden. „Ich hab mir den Hut aufgesetzt für dieses Projekt, und es ist sehr schwer, ihn wieder abzusetzen. Vor allem, wenn man die Not der Kinder sieht.“ Sie hofft, dass es noch „junge Alte“ gibt, die sie ersetzen können. Bei dem Mangel an Erziehern vermutlich kein leichtes Unterfangen. „Man muss sich halt rechtzeitig kümmern und den eigenen Nachwuchs auch heranzüchten und vor allem fördern“, betont Pfahl. Dann könnten Engpässe auch vermieden werden.
In der Vorweihnachtszeit wurde im Flüchtlings-Kinderzimmer viel gebastelt. Farben und Formen waren angesagt, aus Kreisen wurden Schneemänner, aus Dreiecken Tannenbäume. „Hier wird nur Deutsch gesprochen, auch von den Kindern untereinander.“ Manchmal singt die Gruppe Lieder aus den verschiedenen Herkunftsländern. „Zum Schluss kommt aber immer ein deutsches – es lebe Helene Fischer.“