2020
HAZ vom 28.12.2020, S. 14:
Bescherung für Obdachlose
Restaurants verteilen Essen und Geschenke
(bil). Auf dem Bürgersteig vor dem Lokal Mon Bonheur war am ersten Weihnachtstag alles für eine Bescherung angerichtet. Helfer haben knapp 100 Geschenktüten für Obdachlose gepackt – mit Brot, Mandarinen, Stollen und Süßigkeiten. Auf einem Tresen an der Voßstraße dampfen Suppe und Früchtepunsch. „So eine Suppe habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gegessen“, lobte ein älterer Mann.
Anstoß für die weihnachtliche Essensausgabe kam vom Betreiber des Mon Bonheur, Thomas Immenroth. Der 42-Jährige konnte Maren Meyer als Mitstreiterin für die Aktion gewinnen, die ein Cocktailcatering betreibt, sowie Frank Ochotta vom benachbarten La Rock. Immenroth konnte die Klagen über die Corona-Einschränkungen zum Fest nicht mehr hören. „Viele jammern auf hohem Niveau, aber sitzen im Warmen und haben ihr Weihnachtsessen.“
Der Gastronom wollte Leuten helfen, für die Essen und Unterkunft nicht selbstverständlich sind. Das Trio sammelte Sachspenden bei Stammkunden und Unternehmen wie Göing, Kreipe, Trüffel Güse sowie Back- und Naschwerk.
Die Obdachlosenhilfe e. V. machte die Aktion bekannt, sodass ab 17 Uhr die ersten Portionen von rund 50 Litern Suppe ihre Abnehmer fanden. Immenroths Freunde halfen am Abend bei der Essensausgabe.
HAZ vom 19.12.2020, S. 7:
Obdachlose in Hotels unterbringen?
Bündnis fordert schnelle Hilfe
Hannover. Viele Wohnungslose in Niedersachsen sind angesichts des Winters in der Corona-Krise dringend auf Unterstützung angewiesen. Ein Bündnis um den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) fordert von Land und Kommunen daher unter anderem die Anmietung von Hotels und Jugendherbergen, um den Menschen ein angemessenes Dach über dem Kopf zu geben.
Für Hoteliers, deren Betrieb derzeit nur eingeschränkt möglich ist, könne das eine „Win-win-Situation“ sein, sagte gestern DGB-Bezirkschef Mehrdad Payandeh. Die Unterbringung der Wohnungslosen sei auch notwendig, um ihre Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus zu senken, erklärte Eva Thalmeier von der Landesarmutskonferenz.
Der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Niedersachsen teilte auf Anfrage mit, dass einige Hoteliers bereits Wohnungslose aufgenommen hätten. Letztlich gehe es aber immer um Einzelfallentscheidungen – auch, weil es teilweise günstiger sei, das Hotel während der Corona-Krise gar nicht erst zu öffnen, anstatt nur wenige Gäste aufzunehmen.
Der DGB, die Landesarmutskonferenz und die Stiftung „Ein Zuhause“ forderten außerdem die Aussetzung von Zwangsräumungen während der Pandemie und einen Kündigungsschutz bei coronabedingten Zahlungsrückständen.
HAZ vom 03.12.2020, S. 18:
114 neue Plätze für Obdachlose
Stadt, Politik und Privatleute organisieren drei Projekte / Unterbringung auch in Hotelzimmern
Von Jutta Rinas
Nach der massiven Kritik am Umgang der Stadt mit Obdachlosen zu Corona-Zeiten gehen kurzfristig gleich drei Projekte für Menschen ohne Wohnung an den Start. Insgesamt werden damit – teilweise tagsüber, teilweise auch über Nacht – 114 neue Plätze geschaffen. Verwaltung, Politik und Privatleute reagieren damit auf den Sturm der Entrüstung, den die Schließung des Naturfreundehauses Mitte Oktober entfacht hatte. Obdachlose waren dort während der Corona-Pandemie zeitweise untergebracht aber dann auf die Straße gesetzt worden.
Quelle: Kutter
Tagesnotschlafstelle für Frauen
Noch im Dezember wird die Stadt eine Tagesnotschlafstelle für obdachlose Frauen einrichten. Das soll in der bereits bestehenden Unterkunft an der Langensalzastraße in der Südstadt geschehen. Es sei in Gesprächen mit Obdachlosenhilfen deutlich geworden, dass eine Schlafmöglichkeit für Frauen dringend gebraucht werde, sagte Baudezernent Thomas Vielhaber in einer gemeinsamen Sitzung von Sozial- und Bauausschuss am Mittwoch. Das Angebot – zehn Plätze in fünf Doppelzimmern – richte sich an Bedürftige, die nachts aufgrund von Prostitution oder Drogensucht nicht die üblichen Notschlafstellen nutzen könnten. Die Tagesnotschlafstelle soll von 10 bis 16 Uhr geöffnet sein. Sozialdezernentin Sylvia Bruns sagte, dass ihr die Bekämpfung der Obdachlosigkeit von Frauen ein besonderes Anliegen sei. Dazu sei es notwendig, die Fülle an Angeboten in der Stadt gut zu vernetzen.
Projekt soll Anfang 2021 starten
Nach Angaben der Verwaltung soll es ab Anfang 2021 ein weiteres Angebot für obdachlose Menschen geben. Das Projekt „Plan B – OK“ will den Menschen Wohnplätze, soziale Beratung und Anschlussperspektiven bieten. Sie sollen bis zu drei Monate untergebracht und dabei unterstützt werden, eine Perspektive zu entwickeln. Die Stadt will dazu zunächst eine Immobilie mit sieben Wohneinheiten in Döhren für 21 Menschen zur Verfügung stellen. Langfristig soll das dreijährige Modellprojekt bis zu 70 Plätze umfassen. Auch hierfür hat die Verwaltung bereits eine Unterkunft im Auge. Doch es gibt einen Wermutstropfen. Das Gebäude muss baulich nach und nach aufgestockt werden. Mitte 2021 sollen dort rund 50 Obdachlose Platz finden. Die geplante Höchstgrenze von 70 Obdachlosen werde aber erst 2022 erreicht. Zustimmung kam dennoch von allen Fraktionen. Es sei richtig, wohnungslose Menschen nicht nur unterzubringen, sondern ihnen eine Perspektive zu bieten, hieß es.
Spenden helfen
Bereits seit Ende November haben 34 Obdachlose in zwei Hotels in der Innenstadt ein Dach über dem Kopf gefunden. „Das Projekt ist das Resultat einer Privatinitiative“, sagt Udo Niedergerke von der Niedergerke-Stiftung. „Wir wollten der Verwaltung zeigen, wie schnell so etwas geht.“ Innerhalb von 14 Tagen habe man unter der Federführung der Selbsthilfe für Wohnungslose (Sewo) zwei Häuser des Hoteliers Jamil Badawi mit insgesamt 31 Zimmern anmieten können.
Dass die Obdachlosen bis auf wenige Paare in Einzelzimmern untergebracht sind, freut Niedergerke besonders. Nur so seien die Hygieneregeln sicher einzuhalten. Auch die Lage der Hotels in der City sei ideal. Das auf vier Monate ausgelegte Projekt wird von dem Ehepaar Maria und Uwe Thomas Carstensen (MUT-Stiftung), der Niedergerke-Stiftung und den Spenden vieler Bürger finanziert und mit Unterstützung von Caritas, Diakonie, AWO (Arbeiterwohlfahrt) und Sewo realisiert. 140 000 Euro an Spendengeldern habe man mittlerweile eingesammelt, freut sich Niedergerke.
HAZ vom 19.11.2020, S. 19:
Abschied von den Weggefährten
Andacht für verstorbene Obdachlose: Kirchen fordern Gedenkort für anonym Bestattete
Von Simon Benne
Die zugige, dunkle Ecke ist eigentlich kein Ort für Feierlichkeiten. Aber es ist ja auch eine außergewöhnliche Gemeinde, die sich am Buß- und Bettag vor dem Obdachlosenladen Mecki am Raschplatz versammelt hat. Einige haben dicke Plastiktüten dabei, manche rauchen. Ein paar Dutzend Menschen sind es, von denen viele sonst nicht in die Kirche gehen. Jetzt aber ist die Kirche gewissermaßen hierher gekommen.
Quelle: Behrens/Benne
Ein trauriges Halleluja
„Guter Gott, wir legen heute die Menschen in deine Hände, die gestorben sind“, sagt Hannovers oberster Katholik, Propst Christian Wirz, in einem Gebet. Unter der Raschplatzhochstraße lodern Flammen aus zwei Feuerkörben. Jemand spielt Gitarre, und ein kleiner Wohnungslosenchor stimmt ein trauriges Halleluja an, um in dieser Open-Air-Andacht an die verstorbenen Obdachlosen des vergangenen Jahres zu erinnern.
„Unsere Toten sollen nicht vergessen werden, die gehören zu uns“, sagt der 52-jährige Dietmar, der selbst wohnungslos ist. Der neue evangelische Stadtsuperintendent Rainer Müller-Brandes erinnertr neue evangelische Stadtsuperintendent Rainein der Andacht an die 73 Menschen aus der Szene, die im vergangenen Jahr verstorben sind – das seien fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. „Wir vertrauen darauf, dass es ihnen jetzt gut geht, dass sie nicht überlegen müssen, wo sie Kleidung herbekommen oder schlafen“, sagt er.
Im Wechsel verlesen die Geistlichen die Namen der Toten. Trauernde stellen dabei Kerzen auf ein Kreuz aus Tüchern, viele haben Tränen in den Augen. Ein Mann kniet nieder und bekreuzigt sich. „Alle Menschen haben eine Würde – auch jene, die auf der Straße sterben“, sagt Wirz.
Keine Feier, keine letzten Worte
Für viele Obdachlose ist diese Zeremonie die einzige Gelegenheit, von Weggefährten Abschied zu nehmen. Wenn ein Verstorbener keine Angehörigen hat, die sich um die Bestattung kümmern, übernimmt oft das städtische Ordnungsamt die Beerdigung. Die Toten werden dann anonym beigesetzt. Häufig werden gesammelte Urnen kollektiv auf Rasenflächen von städtischen Friedhöfen begraben. Freunde erhalten in der Regel keine Auskunft über Zeit und Ort der Bestattung.
„Es gibt dann keine Feier, keine Abschiedsworte und keine Trauergäste“, kritisiert Müller-Brandes. Rund 350 Verstorbene werden in Hannover jährlich anonym beigesetzt. Der langjährige Diakonie-Pastor hat selbst schon Trauerandachten für Obdachlose gestaltet. In der Marktkirche werden am Ewigkeitssonntag, 22. November, im Gottesdienst um 10 Uhr auch die Namen verstorbener Menschen aus der Szene verlesen.
In der Krypta der katholischen Basilika St. Clemens ist vor zwei Jahren ein Trauerort eingerichtet worden. Dort tauchen die Namen Verstorbener in einer Endlosvideoinstallation auf.
Auch bei der Stadt setzen sich die Kirchen dafür ein, einen Ort des Gedenkens für anonym Bestattete zu schaffen, beispielsweise eine Stele auf einem Friedhof. Wirtschaftsdezernentin Sabine Tegtmeyer-Dette stehe dem Vorschlag positiv gegenüber, sagt Müller-Brandes. „Wir haben jetzt vereinbart, dass Kirche und Stadt über eine würdige Andachtsstätte nachdenken.“ Dann hätte die Trauer all jener, die sich jetzt am Raschplatz zur Andacht versammelt haben, einen festen Ort.
HAZ vom 09.11.2020, S. 14:
„Wir führen bald eine Strichliste mit Toten“
Der Winter steht kurz bevor – und Corona hat das Überleben auf der Straße noch schwerer gemacht. Ein Tag mit Obdachlosen und ihren Helfern in Hannover am Raschplatz zeigt: Das Hilfesystem steht kurz vor dem Kollaps.
Von Jutta Rinas
Da ist dieser Mann, der mit nichts als einem T-Shirt und einer kurzen Hose bekleidet in der Warteschlange steht. Er zittert, tippelt in zerschlissenen Schlappen hin und her, es fröstelt einen beim bloßen Anblick. Wie, fragt man sich, hat dieser Obdachlose die Nacht bei Temperaturen knapp über null verbracht? Warum lässt ihn in der Schlange vor dem Kontaktladen Mecki, in Hannovers Anlaufstelle für Menschen auf der Straße hinter dem Hauptbahnhof niemand vor, sodass er sich wärmen kann?
Hilfe brauchen sie alle
Die Antwort erschließt sich an diesem tristen Morgen in der Passerelle von selbst. Es ist 8.30 Uhr, der Boden ist teilweise feucht von Regen, die Luft ist klamm. Seit einer halben Stunde hat der Mecki-Laden geöffnet. Eine Schlange voller Elendsgestalten wartet geduldig, schweigend. Das Problem ist: Hilfe brauchen sie alle. Der Mann in der kurzen Hose sticht zwar sofort heraus zwischen all den Obdachlosen mit ihren vielen Schichten Kleidung am Körper: Pullover, Parka, Regenjacke, Mantel, alles übereinander. Aber da ist auch diese ältliche Frau, die auf Krücken herangehumpelt kam und jetzt draußen auf einem Stuhl niedergesunken ist. Ein Mann, der all seine Habseligkeiten in einer Plastiktüte am Rollstuhl befestigt hat, arbeitet sich Stück für Stück in der Schlange vor. Wie ist er bei all den Treppen überhaupt hinunter zum Mecki-Laden gekommen? Den barrierefreien Abgang hinter der Stadtteilbibliothek halten streitende Drogensüchtige besetzt. Die Frage sei falsch gestellt. Er komme nicht mehr hoch auf die Straße, sagt eine Sozialarbeiterin später. „Sein Leben spielt sich nur noch unten in der Passerelle ab.“
Wie geht es Hannovers Obdachlosen in Corona-Zeiten? Seit Mitte Oktober wird diese Debatte mit ungewöhnlich harten Bandagen geführt. Auslöser war die Schließung einer temporären Unterbringung für Obdachlose im Naturfreundehaus. Wohlfahrtsverbände empfanden es als Schlag ins Gesicht, dass ein im Sommer geöffnetes Angebot mit Einbruch der Kälte schloss. Die Stadt beharrt darauf, dass sie für den Winter auch ohne zusätzliche temporäre Unterbringungsmöglichkeiten gerüstet ist. Die Unterkünfte seien fit für die Corona-Herausforderungen, heißt es wieder und wieder.
Wer einen Tag am Raschplatz unter Obdachlosen und Helfern verbringt, versteht schnell, warum die Menschen vor Ort so erbost über diese Haltung sind. Hygienekonzepte in Tagesaufenthalten verhindern zwar Corona-Infektionen. Aber sie bewirken zugleich, dass das Hilfesystem vor dem Kollaps steht. Wegen der Abstandsregeln findet nur ein Bruchteil der Obdachlosen in den Tagestreffs Schutz. Teilweise stundenlang müssen sie am Raschplatz auf die vielleicht einzige warme Tasse Kaffee, das einzige Brötchen warten, aufs Wäschewaschen oder Duschen. Auch vor der Zentralen Beratungsstelle (ZBS) des Diakonischen Werks an der Berliner Allee versammelt sich eine Warteschlange. Schuldner-, Suchtberatung, viele Hilfen finden sich hier. Einzeln werden die Leute eingelassen, damit es im Haus nicht zu Gedränge kommt. „Die Menschen konnten sich immer darauf verlassen, dass bei uns die Tür nicht zugeht“, sagt Ursula Büchsenschütz, Leiterin der ZBS. Seit Corona sei das anders. Dabei hätten Obdachlose auch tagsüber einen Anspruch auf geschützten Aufenthalt. Seit April meldeten die Träger der Stadt, dass dieser nicht mehr garantiert werden könne. Doch die Verwaltung im Rathaus reagiere nicht.
Dabei kann man in der ZBS erleben, was noch im Scheitern möglich ist. Im Tagestreff namens Dach überm Kopf (Dük) können Obdachlose sich ein Essen kochen. Ein vom Leben gezeichneter Mann bereitet sich am Herd eine Mahlzeit zu. Hackfleisch, Mais, Tomatenmark, orientalische Gewürze, alles hat er mitgebracht. Es duftet gut. Ein Adoptivkind aus Indien mit deutschem Pass sei er, sagt er. Mehr erzählt er nicht. Eine Stunde höchstens darf er sich wärmen, viel kürzer als sonst. Was macht er dann? „Auf der Straße rumhängen, bis der Abend kommt“, sagt er, „bei Corona bleibt sonst nichts.“
Wund und abgestumpft
Es geht auch um medizinische Versorgung für Menschen, die so wund und abgestumpft sind, dass man ihnen Hilfe nachtragen muss. „Ich hab’ keine Angst vor Corona, ich trinke Wodka“, lacht einer am Mecki-Laden. Er bekommt als Erstes eine neue Maske verpasst. Ein anderer hockt Zeitung lesend auf der Treppe. Wie er da so sitzt, mit seiner auf die Nase gerutschten Brille, wirkt er, als habe er auch in besseren Zeiten beim Frühstück Zeitung gelesen. Er sei Rechtsanwalt gewesen, erzählt er. Man glaubt ihm, weil er sich so kultiviert ausdrückt. Was ist geschehen? Er senkt resigniert den Blick. Er komme zurecht, sagt er, erläutert, wie er sich schützt, wenn er draußen schläft und „durch die Bäume in den Himmel guckt“. Kein Wort verliert er darüber, wie krank er ist. Wer ihm nahe kommt, riecht es, der Gestank ist kaum zu ertragen. Der Mann hat unter all seinen Sachen offene, entzündete Beine.
Dramatisch ist, dass er überhaupt draußen sein muss. Drinnen im Mecki-Laden sind Stühle hochgestellt, Teile des Raums mit Tüchern verhängt. Bis zu 55 Menschen können sich normalerweise zeitgleich hier aufhalten. Maximal fünf Leute können jetzt hinein, um sich etwas zu essen abzuholen, zu telefonieren oder um medizinische Versorgung zu bitten. „Wir können keinen warmen Unterschlupf mehr bieten“, sagt Sozialarbeiter Pascal Allewelt und fragt: „Wie soll das im Winter werden?“
Der Mann ist so empört darüber, dass die Stadtverwaltung sich gut aufgestellt sieht, er kann gar nicht aufhören zu reden. Einen Vorbau wünscht er sich, Zelte, Heizpilze, nicht einmal auf Anfragen, ob das kurzfristig möglich sei, gebe es Antwort. Eine weitere Immobilie, wie von der Stadt geplant, tagsüber zu öffnen, reiche nicht. Auch die Notunterkünfte müssten offen bleiben. Egal, ob mit Grippe, Fieber oder Wunden, bei Regen, Schnee oder Hagel, die Obdachlosen würden dort jeden Morgen auf die Straße gesetzt. Jetzt fänden sie tagsüber kaum noch Hilfe. „Sie sind alle Hochrisikogruppe“, sagte Allewelt. „Wir behandeln sie wie Menschen dritter Klasse“, fügt er an.
Wenn überhaupt. Im Trinkraum Kompass ist es an diesem Tag so leer wie normalerweise nie. Der Grund: Manche Obdachlose kommen nicht mehr. Zu oft sind sie an der Tür abgewiesen worden, mussten warten, stundenlang, ohne eine Möglichkeit, sich unterzustellen. 35 Personen haben im Trinkraum Platz, neun sind es zu Corona-Zeiten. Einer kommt gerade mit geschwollenem Gesicht voller blutiger Kratzspuren herein. An diesem Tag hat er Glück. Er bekommt Kaffee, eine Suppe. Aber: „Menschen, die wir lange kennen, tauchen nicht mehr auf“, sagt Sozialarbeiterin Maren Holthausen. „Wir wissen nicht, wo sie sind.“ Die Folge: Sozialarbeiter gehen inzwischen regelmäßig bekannte Schlafplätze ab, gehen sie suchen. Dass kürzlich zwei Obdachlose am Hauptbahnhof tot gefunden wurden, halten sie nicht für einen Zufall. Das Netz aus Hilfen auf der Straße trage nicht mehr. Selbst das Telefonieren mit den Ämtern werde schwerer. „Wenn das so weitergeht, führen wir bald eine Strichliste mit Toten“, sagt Holthausen. „Man fühlt sich mitverantwortlich“, sagt Kollege Michael Stahl. Obdachlose würden aus Parkhäusern, U-Bahn-Stationen, dem Hauptbahnhof, vertrieben. „Wo“, fragt Stahl, „sollen sie in Corona-Zeiten hin?“
Wie groß die Not mittlerweile ist, kann man am Abend auch am Andreas-Hermes-Platz erleben. Die Schlange der Bedürftigen zieht sich hinter dem Pavillon rund um den Hermes-Brunnen, an der Weißekreuzstraße entlang bis hinters Intercity-Hotel. Ab 17 Uhr gibt die Obdachlosenhilfe Hannover e. V. Essen und Kleidung aus. Um 15 Uhr stehen die Ersten an. Die Zahl habe sich seit März nahezu verdoppelt. An die 1000 Menschen versorge man pro Woche, betont der Vorsitzende Mario Cordes. Zutiefst verwirrte Menschen trifft man hier, wie jenen Mann, der tiefernst um Verständnis dafür bittet, dass er nicht offen sprechen kann. Er sei „Geheimnisträger, aber von der anderen Seite“. Eine Frau, die in der DDR groß wurde, in der Bundesrepublik nie Fuß fasste, in Hannover strandete, und zwar eine Wohnung, aber am Monatsende nichts mehr zu essen hat, findet umso klarere Worte.
„Man soll eigentlich Kontakte vermeiden, und wir stehen trotzdem Schlange“, sagt die 60-Jährige. Was wollten „die Oberen“ eigentlich noch, um zu verstehen, wie groß die Not „da unten ist“?
Quelle: Kutter
HAZ vom 04.11.2020, S. 18:
Kältebusse fahren wieder / Kleiderspenden sind erbeten
Von Conrad von Meding
Johanniter, Caritas und Malteser fahren seit Monatsbeginn Hannovers Innenstadt wieder mit ihren Kältebussen in, die an wechselnden Tagen Obdachlose mit warmem Essen, Getränken, Kleidung und Hilfsmitteln versorgen. Dringend benötigt werden laut Johannitern Decken (aber keine Bettdecken) und Schlafsäcke, Kapuzenpullover, Gürtel – und auch ehrenamtliche Helfer.
Bus startet um 18 Uhr
Quelle: Heun
Montags, mittwochs und freitags ist der Johanniter-Kältebus unterwegs. Er startet um 18 Uhr an der Nikolaikapelle an der Goseriede und fährt dann zum Kröpcke. Der Raschplatz wird aktuell nicht angesteuert, weil sich dort so viele Obdachlose aufhalten, dass die Hygieneabstände nicht einzuhalten sind.
Die ausgeteilten Mahlzeiten zahlt die Stadt, der Einsatz der Helfer ist ehrenamtlich – trotzdem werden Spenden benötigt. Wollmützen und -socken, Taschen und Rucksäcke, Zahnbürsten und -pasta, Winterschuhe ab Größe 40 und aktuell Mund-Nasen-Masken gehören zu den gefragten Gegenständen. Die Johanniter bitten, mit ihnen unter Telefon (08 00) 0 84 84 88 Kontakt aufzunehmen oder per Mail unter einsatz.hannover@johanniter. de, um Übergaben zu vereinbaren.
Unter der Telefonnummer können auch Stellen gemeldet werden, an denen hilfsbedürftige Menschen lagern. Wenn es allerdings um Notfälle geht, wird dringend gebeten, die Nummer 112 anzurufen, weil dort schnelle medizinische Hilfe organisiert wird.
HAZ vom 02.11.2020, S. 9:
Hausbesetzungen für Obdachlose?
Aktivisten drohen auf Plakaten mit drastischen Aktionen zur Beseitigung von Missständen
Von Conrad von Meding
Aktivisten haben in der Nacht zu Sonntag rund 3000 Plakate in 19 Stadtteilen geklebt. Sie kündigen an, Häuser für die Nutzung durch Obdachlose zu besetzen, wenn die Stadt nicht bis Ende November bessere Lebensbedingungen für Obdachlose schafft. „Die Zeit für Gespräche ist abgelaufen“, sagt ein Sprecher der Initiative gegenüber der HAZ.
Um die Situation der geschätzt 4000 Obdachlosen in Hannover waren in den vergangenen Wochen heftige Debatten entbrannt. Die Stadt hatte zuvor ein eigentlich erfolgreiches Projekt aufgelöst, bei dem Menschen von der Straße geholt und in eigenen Räumen untergebracht wurden – zunächst in der Jugendherberge, später in einem Naturfreundehaus. Die Stadt hatte stets betont, dass das Projekt befristet sei, hatte aber nach Auslaufen keine Alternative vorzuweisen, sodass gut ein Dutzend Menschen wieder zurück auf die Straße musste.
Quelle: von Meding
„Wer mit offenen Augen durch die Stadt läuft, sieht, dass es genug Raum gibt“, sagt der Sprecher der Initiative Sonst besetzen wir, der sich Ben nennt. „Es gab genug Aktionen, Demos und zuletzt die Kundgebung vor dem Rathaus – alles wurde ignoriert.“ Deshalb habe man „gemeinsam die Entscheidung getroffen“, selbst aktiv zu werden: „Wir sind es leid, Versprechungen zu hören.“
„Obdachlose gegängelt“
Die Stadt stellt Notunterkünfte als Nachtschlafplätze zur Verfügung, die aber morgens verlassen werden müssen, sowie weitere Unterkünfte in Wohnheimen und -gruppen. Die Initiative kritisiert aber, dass Menschen, die auf der Straße oder in Notunterkünften leben, in großer Unsicherheit lebten. „Auf der Straße werden sie von Sicherheitsdiensten gegängelt, in den Unterkünften dürfen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unangemeldet die Wohnräume betreten“, sagt Sprecher Ben. „Für jeden anderen ist es selbstverständlich, hinter sich abschließen zu können.“ Die Initiative fordere einen Schlüssel und einen Briefkasten für jede Person in Hannover, der das wünscht.
Bei Hannovers Obdachloseninitiativen stößt das Projekt nicht durchgehend auf Zustimmung. Fairkauf-Gründer Reinhold Fahlbusch, der sich heute im Obdachlosenverein Stimme der Ungehörten (Stidu) engagiert, teilt zwar die Einschätzung, dass die Stadt dringend und schnell mehr für eine menschenwürdige Unterbringung Obdachloser tun müsse. „Die Mittel müssen aber nicht nur legitim, sondern auch legal sein“, sagt Fahlbusch. Mit einer Hausbesetzung sei „nichts gewonnen, außer dass ein Haus besetzt ist“. Ziel müsse vielmehr sein, mit der Stadt langfristige Strategien zu entwickeln, um wohnungslosen Menschen eine verlässliche Bleibe zu geben.
Die Initiative „Sonst besetzen wir“ betont, dass ihr Unterbringungen ohne Hausbesetzungen lieber sein. Nachdem im Oktober aber zwei Menschen auf der Straße gestorben seien und jetzt die kälteste Jahreszeit bevorstehe, müsse die Stadt sich schneller bewegen. Deshalb habe man vor der Hausbesetzung extra eine einmonatige Frist gegeben, sagt der Sprecher: „Wir wollen Druck aufbauen und mit unserer Kampagne das Thema sichtbar machen.“
HAZ vom 23.10.2020, S. 17:
Zweiter Obdachloser gestorben
Erst ein Toter am Raschplatz, nun einer an der Lister Meile / Heftige Kritik am Kurs des Oberbürgermeisters, der ein Hilfsprojekt beenden ließ / Auch Parteifreunde machen Druck
Von Karl Doeleke und Jutta Rinas
Innerhalb weniger Tage sind in Hannovers Innenstadt zwei Obdachlose auf offener Straße gestorben. Bereits am Dienstagnachmittag hatten Passanten am Raschplatz einen 45 Jahre alten Wohnungslosen tot entdeckt. Am Donnerstag bestätigte die Polizei, dass Zeugen einen 34 Jahre alten Mann aus Osteuropa leblos an der Lister Meile in der Nähe des Pavillons gefunden haben.
Ein Verbrechen schloss die Polizei in beiden Fällen aus. Der Tote von der Lister Meile sei offenbar krank gewesen und habe vor seinem Tod am frühen Mittwochmorgen schon tagelang über Unwohlsein geklagt, sagten Polizeisprecher. Auch der Mann am Raschplatz war laut Polizei infolge einer Krankheit gestorben.
Für die Stadtverwaltung kommen die Nachrichten zur Unzeit. Seit Tagen steht sie in der Kritik, weil sie trotz steigender Infektionszahlen und des nahenden Winters 17 Obdachlose aus dem Naturfreundehaus auf die Straße gesetzt hatte und damit ein überraschend erfolgreiches Modellprojekt beendet hatte. Etliche der Menschen haben mittlerweile eine Wohnung gefunden, einige sogar eine Arbeitsstelle. Schon in der vergangenen Woche hatten sich darum viele irritiert über das Handeln der Stadt gezeigt. Am Mittwoch verstärkte Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) das Unverständnis mit einem eigentlich gut gemeinten Satz: „Wir haben Platz.“ Damit bekundete der OB in einer Videokonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel die Bereitschaft der Stadt, weitere Geflüchtete aus Lagern in Griechenland aufzunehmen. Tatsächlich landete am Freitag ein Flugzeug mit Geflüchteten aus Griechenland in Langenhagen. Ein Minderjähriger soll in Hannover leben.
In der öffentlichen Wahrnehmung entstand durch Onays Satz der Eindruck, er messe mit zweierlei Maß: Für Flüchtlinge ist Platz, Obdachlose werden auf die Straße gesetzt. Der Oberbürgermeister musste heftige Kritik von SPD, CDU, FDP und den „Hannoveranern“ einstecken. Die hielt auch am Donnerstag an: Selbst die Grünen forderten ihren OB zum Handeln auf. Auch Linke und die „Fraktion“ forderten eine Kurskorrektur.
Ändert die Stadt ihre Haltung nicht, sind geschätzt rund 400 Obdachlose auf die Notunterkünfte der Stadt angewiesen. Obdachloseninitiativen forderten daher am Donnerstag, die Notunterkünfte auch tagsüber zu öffnen.
HAZ vom 16.10.20, S. 20:
„Es ist grausam, was da gerade geschieht“
Nachdem sie das Naturfreundehaus verlassen mussten, erwartet viele Obdachlose eine Zeit der Ungewissheit. Jetzt naht der Winter. Über das Ende eines geschützten Ortes.
Von Jutta Rinas
„Herzlich willkommen Juleica“. In großen Lettern prangt das Schild am Eingang des Naturfreundehauses inmitten der Kleingartenkolonie in der Nähe der Eilenriede. Es sind wohl künftige Gäste gemeint, die Abkürzung Juleica steht für ehrenamtliche Mitarbeiter in der Jugendarbeit. Das Schild sticht ins Auge, weil es das Geschehen an diesem Morgen auf so eine zynische Weise konterkariert. Denn die Menschen, die im Nieselregen das Naturfreundehaus verlassen, sind mit diesem Gruß eben nicht mehr gemeint, obwohl unübersehbar ist, wie viele von ihnen dringend ein „Willkommen“ an einem geschützten Ort bräuchten.
17 Obdachlose haben zuletzt noch im Naturfreundehaus gelebt, einer städtischen Notunterbringung in Zeiten der Corona-Krise. Ausgerechnet jetzt, mit Anbruch der kalten Jahreszeit und bei zeitgleichem Anstieg der Covid-19-Infektionen, beendet die Stadt das Projekt. Aus der Kommunalpolitik kommt harscher Protest. Es sei „nicht hinnehmbar“, dass die Stadt die Unterbringung von obdachlosen Personen in einer Pandemie nicht gewährleisten könne, ist von Seiten von SPD Hannover und SPD-Ratsfraktion zu hören. Dies sei „ein Akt sozialer Kälte, der nicht zu Hannover passt“.
Peinlich findet die CDU-Ratsfraktion, dass ein Erfolgsprojekt für Obdachlose zu Beginn der kalten Jahreszeit endet. Beide Fraktionen fordern Gespräche, Lösungen, bevor die Temperaturen den Gefrierpunkt erreichen.
Wer sich an diesem Morgen gegen 9 Uhr vor der Herberge einfindet, um zu erfahren, was für Menschen da in ein Leben ohne sicheres Dach über dem Kopf zurückgeschickt werden, erfährt vor allem, wie viele Gesichter Obdachlosigkeit hat. Da ist Angelika, 66. Spindeldürr ist sie, das Leben auf der Straße, die Drogen, haben sich tief in ihr Gesicht gegraben. „Da fängt der Winter an – und es ist mit dem Leben hier vorbei“, sagt die Frau leise, fast tonlos. Es ist bedrückend zu hören, dass ihr nach einem schweren Leben offenbar jede Kraft für Empörung fehlt. Einen Platz in einer Unterkunft in Vinnhorst hat sie gefunden, kein Einzelzimmer, sagt sie. Eigentlich wolle sie nicht dorthin. Sie ist schwer lungenkrank, gehört zur Hochrisikogruppe, sagt Caritas-Sozialarbeiterin Ramona Pold später bitter: „Sie hat einfach Angst.“
Die will Angelika wohl auf keinen Fall fühlen, im Gegenteil. Denn plötzlich poppt ein Moment früheren Glücks, eine Kindheitserinnerung, auf. „Ich kenn’ die Gegend hier von klein auf, ich war früher schon hier“, schwärmt die 66-Jährige. Das Ganze hat etwas zutiefst Surreales, weil sich zeitgleich immer mehr Männer auf den Weg ins Ungewisse machen. Die Stimmung ist extrem gedrückt. Eingewickelt in dicke Jacken, die wenigen Habseligkeiten in Plastiktüten gestopft, verlassen sie das Naturfreundehaus in Richtung Hermann-Bahlsen-Allee. Viele kommen aus Osteuropa, ein kurzer Gruß auf Polnisch geht noch in Richtung des Kumpels. Dann sind sie weg.
Manche können sich aber offenbar nicht lösen, wie dieser junge Mann, der seinen Namen nicht nennen will und Mitte 30 ist. Einen silbernen Rollkoffer hat er in der Hand, gut gekleidet ist er, frisch frisiert. Niemand würde ihn für einen Wohnungslosen halten. Warum ist er überhaupt hier? In Litauen sei er aufgewachsen, erzählt er, habe lange in Großbritannien gelebt. Vor einem halben Jahr sei er nach Deutschland gekommen, in der Hoffnung Arbeit zu finden. Wegen Corona sei er gestrandet, sagt er entschuldigend. Er habe aber mittlerweile Arbeit als Fisch- und Fleischverkäufer. Der Mann ist so höflich, schwankt so charmant zwischen Deutsch und Englisch, er könnte der Höhepunkt jedes Großmutter-Kaffeekränzchens werden. Wo er leben wird, bleibt diffus.
Quelle: Franson
Viele Menschen müssten das Naturfreundehaus nach schweren Krankheitsverläufen verlassen, einem sei der Unterschenkel amputiert worden, erzählt Sozialarbeiterin Pold weiter. Seit kurz vor 6 Uhr morgens organisiert die Frau den Auszug aus dem Naturfreundehaus. „Manche Menschen haben bis zuletzt gedacht, sie dürfen doch bleiben“, sagt sie. Das Vertrauen, das sie aufgebaut hätten, sei komplett wieder weg. Auch Jamal Keller vom Diakonischen Werk versteht nicht, wie die Verwaltung eine so gute Sache aufgeben konnte. „Wir hätten nachbelegen können, es gibt so viel Bedarf, aber wir durften es nicht“, sagt er. Die Fassungslosigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Auch Heidi, die mit Krücken vor einem kleinen Auto steht, schafft den Absprung noch nicht. Schon früher hat sie mit Freund Sascha im Auto gelebt. Jetzt ist es im schlimmsten Fall wohl wieder soweit. Es sei grausam, was da geschehe, sagt die Frau, die wegen eines Schmerzsyndroms im Fuß nicht richtig laufen kann. Sie ist psychisch krank, war lange in Wunstorf in der Psychiatrie und rutschte dann ab. Im Sommer hätte man ja zelten oder draußen schlafen können. Aber jetzt? Ausgerechnet jetzt müsse man auf die Straße. „Wir bräuchten nur ein Zimmer, das man abschließen kann, damit uns keiner die Sachen klaut“, sagt die 38-Jährige.
In diesen Zeiten in Hannover inmitten der Corona-Pandemie ist das offenbar zu viel verlangt.
HAZ vom 15.10.2020, S. 19:
Obdachlose wieder auf der Straße
Verbände laufen Sturm gegen Entscheidung der Stadt, temporäre
Hilfsprojekte zu stoppen / Betroffene leiden meist unter Vorerkrankungen
Von Jutta Rinas
Ausgerechnet in Zeiten steigender Covid-19-Infektionen fährt die Stadtverwaltung ihre temporären Hilfsprojekte für Obdachlose in der Corona-Krise zurück. Dazu zählt nicht nur die Schließung des Naturfreundehauses nahe der Eilenriede. 17 Obdachlose konnten nach Angaben einer Sprecherin bis zuletzt nicht andernorts untergebracht werden und werden am heutigen Donnerstag auf die Straße zurückgeschickt. Die Stadt weigert sich auch, leer stehende Hotelzimmer für Obdachlose anzumieten, um die zumeist unter Vorerkrankungen leidenden Menschen mit einer Einzelunterbringung besser vor Ansteckung zu schützen.
Quelle: Schaarschmidt
Das ist umso bemerkenswerter, weil das Gesundheitsamt der Region eine Einzelunterbringung in der Corona-Krise ausdrücklich empfiehlt. Gerade vor dem Hintergrund der prekären Situation in den Obdachlosenunterkünften, der besonderen Schutzbedürftigkeit, der Vermeidung von Infektionen und der Unterbrechung von Kontaktketten sei eine Einzelunterbringung nach Möglichkeit vorzusehen, heißt es in einem Rundschreiben des Dezernats an die Regionskommunen vom 21. August 2020. Die Selbsthilfe für Wohnungslose (SeWo) hat nach eigenen Angaben seit dem Frühjahr zwischen 35 und 40 Menschen in leere Hotels vermittelt, die einen Anspruch auf Leistungen vom Staat, aber kein Obdach hatten.
In vollen Unterkünften sei keine coronagerechte Unterbringung möglich, sagt SeWo-Geschäftsführer Jan Goering. Die Kosten für die Unterbringung in leeren Hotels habe das Jobcenter übernommen. Das würde es immer noch tun, betont Goering. Seit Mitte August sei für die Anmietung von Hotelzimmern allerdings eine ordnungsrechtliche Unterbringungsverfügung des Sozialamtes nötig. Dass die Stadt diese nicht ausstelle, sei angesichts des bevorstehenden Winters und der steigenden Infektionszahlen „absolut absurd“, sagt Goering. Auch er habe schätzungsweise zehn Obdachlose wieder auf die Straße setzen müssen.
Die Stadt argumentiert, die eta-blierten Anlaufstellen für Obdachlose seien mittlerweile auf die aktuellen Herausforderungen vorbereitet. Hygienekonzepte seien angepasst worden. Grundsätzlich stünden sowohl Doppel- als auch Einzelzimmer zur Verfügung. Es gebe nur wenige Einzelzimmer, ist dagegen von der SeWo zu hören. Dort, wo die Empfehlungen nicht vollständig eingehalten werden könnten, habe man durch eine Entzerrung der
Zimmerbelegungen für Abhilfe gesorgt, heißt es seitens der Stadt. In Hannovers größter Notunterkunft am Alten Flughafen habe man zusätzlich mit Planen bedeckte Bauzaunelemente eingesetzt.
Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie betonen, dass die Zahl der Menschen, die Virus und Kälte auf der Straße schutzlos ausgeliefert seien, in den Wintermonaten stark steigen werde. Sie laufen seit Tagen gegen die Pläne der Stadtverwaltung Sturm. „Viele werden, wie in den vergangenen Wintern, die Notunterkünfte der Stadt meiden“, betont Caritas-Abteilungsleiterin Tatjana Makarowski. Dazu seien die Notunterkünfte tagsüber geschlossen. Die Tagestreffs könnten wegen der Abstands- und Hygieneregeln lange nicht so viele Obdachlose versorgen, ergänzt Caritas-Sozialarbeiterin Ramona Pold: „Wir machen uns große Sorgen um die Menschen.“
HAZ vom 10.10.2020, S. 19:
Wohin mit Jim?
Der Obdachlose Jim campiert an der Bödekerstraße – und sorgt für Streit. Anwohner wollen, dass er verschwindet, weil er Schmutz, Gestank und Unrat verbreitet. Andere wollen ihm helfen. Jim aber weigert sich. Was also soll man tun?
Von Jutta Rinas
Hannover. Jim macht Platte. Seit Ewigkeiten schon. Seit 20, 25, 30 Jahren lebe er schon auf der Straße, sagt ein anderer Wohnungsloser, ein Freund, über ihn: „Wir kennen ihn alle.“ Am Hauptbahnhof sei er früher gewesen. Zuletzt habe er einige Monate direkt neben der Treppe zur U-Bahn-Station Lister Platz campiert, erzählt der Mann, dessen aufgedunsenes Gesicht und geschwollene Hände ebenfalls vom harten Leben auf der Straße zeugen. Jim raste manchmal ein bisschen aus, aber er tue niemandem was. Er bettele nicht, die Leute gäben ihm freiwillig etwas. Seit Neuestem versuche er sogar, mit einer Scheuermilch die Umgebung zu reinigen.
Jim selbst sagt wenig über sich. Er rede nicht mit den Medien, sagt er auf Englisch, wenn man ihn anspricht. Wenn man es noch einmal versucht, kommt eine Entgegnung, bei der man nicht weiß, ob sie als Drohung oder eher als verquerer Scherz zu werten ist. Er könne auch böse werden, sagt der Mann mit dem verzottelten grauen Haar wiederum auf Englisch und strahlt einen zugleich aus auffallend blauen Augen an.
Quelle: Franson
Dass er selbst so wenig gesprächsbereit ist, ist schade. Denn um ihn und sein Lager an der Bödekerstraße in der List gibt es Ärger. Es ist nicht das erste Mal, dass Jim allein aufgrund seines verelendeten Zustandes manche Menschen provoziert, andere dagegen gerade deswegen zutiefst berührt. Eine Zeit lang hauste er am Königinnen-Denkmal in der Oststadt. Auch dort war das schon so, dass er seine Umgebung spaltete, Unfrieden stiftete: allein durch sein bloßes Dasein. Die Frage ist: Gibt es eine Lösung? Wer Antworten sucht, stößt schnell darauf, dass es möglicherweise gar keine Antworten gibt. Die Geschichte des obdachlosen Jim ist auch eine darüber, wie hilflos wir im Umgang mit extrem verwahrlosten Menschen sind. Es ist die traurige Geschichte eines Mannes, der manche rührt und andere stört – und an dem sich am Ende alle die Zähne ausbeißen.
Unstrittig ist: Jims derzeitiges Lager in der Bödekerstraße macht einen erbärmlichen Eindruck. All seine Habseligkeiten hat er auf dem schmalen Raum zwischen Radweg und Autostraße um einen Baum herum drapiert. Einen vor Dreck stehenden Schlafsack und eine verschmutzte Isomatte kann man da sehen, Plastikteller und -becher, voll mit Essensresten und abgestandenem Kaffee, Plastiktüten, vollgestopft mit Jims Habseligkeiten.
Dank für ein Lächeln
Allein diesen Anblick können manche Passanten kaum ertragen – vor allem vor dem Hintergrund, dass in all dem Schmutz ein Mensch sein Leben fristet. Manche finden, dass Menschen wie Jim unser Mitleid verdienen, unseren Schutz. Da ist Joanna Gadzinowska, eine gelernte Krankenschwester, die ihm öfters ein paar Euro zusteckt. Sie habe ihn irgendwann zwischen den Autos entdeckt, er tue ihr leid, sagt die 63-Jährige. Der Mann, der angeblich nur Englisch spricht, bedankt sich an diesem Tag bei ihr dafür, dass sie ihm ein Lächeln schenkt. Überraschenderweise in fließendem Deutsch. Oder die 67-jährige Friederike Barnhusen, eine ehemalige Förderschullehrerin. Sie kommt fast jeden Tag an Jims Lager vorbei – und ist entsetzt, dass niemand einschreitet, wenn ein Mensch „so elendig verkommt“. Man lasse ihn da „verrecken“, sagt sie und betont, dass sie weiß, was für ein schreckliches Wort das sei, aber es treffe die Sache dennoch. Dabei müsste dem Mann geholfen werden, er sei doch offensichtlich krank.
Alles andere als leise
Vor allem die Anwohner rund um Jims Lager finden das auch, aber nicht nur das. Sie finden auch: Jim muss weg. Das klingt drastisch – die Leute wissen es. Niemand will seinen Namen in der Zeitung lesen. Die Furcht, als unsozial abgestempelt zu werden, ist groß. Aber wenn man mit diesen Leuten spricht, kann man auch gute Gründe für ihre Meinung finden. Denn Jim ist nicht jemand, der leise und weitgehend unbemerkt unter dem Baum sein Leben fristet. Manchmal brüllt er unvermittelt, tagsüber, aber vor allem nachts, erzählen die Anwohner. Manche Kinder haben allein schon deswegen vor ihm Angst. Seine Fäkalien, seine Essensreste finden sich unter den Bäumen und in dem Verschlag für den Müll der Hausbewohner wieder.
Die Essensreste ziehen Ratten an. Regelmäßig uriniert er in den Eingangsbereich eines Hauses, der Eingang riecht so stark nach Urin, dass es ins Treppenhaus zieht. Jim onaniert öffentlich – und dass er regelmäßig den Sockel der Häuser und den Boden am Lister Platz mit Scheuermilch bearbeitet, finden die Anwohner auch schlimm. Es greife, so sagen sie, die Gebäudesubstanz an. „Wir wollen nicht in unserer sozialen Blase leben“, sagt eine Frau. „Wir sehen auch sein Recht, über sich selbst und seinen Lebensbereich zu bestimmen.“ Aber das, was er mache, greife so stark in den Lebensbereich seines Umfelds ein: „Das wollen wir nicht tolerieren.“
Das Problem ist: Wer setzt die Ansprüche der Anwohner durch? Wer hilft Jim? Wer stiftet Frieden? Dem Ordnungsamt der Stadt ist Jim seit 2016 bekannt. Seitdem gibt es Beschwerden. Vor der Oststadt sei er lange am Bahnhof und in der Marienstraße gewesen, sagt Sprecher Udo Möller. Jim wurde durch den Ordnungsdienst regelmäßig kontrolliert, auf Fehlverhalten hingewiesen, es wurden Platzverweise ausgesprochen. Der Betroffene sei den Platzverweisen in aller Regel nachgekommen, aber meist an Folgetagen wieder da gewesen. Weitere rechtliche Möglichkeiten bestünden nicht.
Hat man ihm, dem möglicherweise psychisch Kranken, Hilfe angeboten? Mehrfach und wiederholt sei er auf die Obdachlosenunterkünfte hingewiesen worden, sagt Möller. Wurde der Sozialpsychiatrische Dienst eingeschaltet? Dieser sei informiert, heißt es weiter. Grundsätzlich könne eine Behandlung gegen den Willen eines Betroffenen aber nur bei einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung initiiert werden. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat eine Anzeige einer Anwohnerin mit der zunächst etwas befremdlichen Aussage im Sande verlaufen lassen, man könne das Verfahren nicht weiterführen, weil der Aufenthalt des Beschuldigten nicht habe ermittelt werden können. Fragt man nach, stellt sich dies als nur ein Teil der Wahrheit heraus. Es sei sehr zweifelhaft, ob der Mann überhaupt schuldfähig sei, sagt eine Sprecherin. Deshalb habe man bislang von weiteren Ermittlungen Abstand genommen.
Große Ratlosigkeit
Zumindest die Polizei versucht, Optimismus zu verbreiten. Im Schulterschluss mit der Stadtverwaltung versuche man, „die Ursachen für das Verhalten des Obdachlosen zu finden, um ihm zielgerichtet Hilfe zu vermitteln und ihn besser zu betreuen“, sagt Sprecherin Natalia Shapovalova. In der Vergangenheit habe der Mann aber alle Hilfsangebote abgelehnt, weil er „frei und selbstbestimmt leben möchte“.
So endet Jims Geschichte mit großer Ratlosigkeit. Alle Behörden sind eingeschaltet. Niemand kann helfen. Die Gesellschaft müsse solche Menschen manchmal einfach aushalten, sagt Caritas-Sozialarbeiterin Ramona Pold. Möglicherweise wird Jim sich wieder einen anderen Platz zum Leben suchen müssen. Wie schon am Bahnhof, in der Marienstraße und am Königinnen-Denkmal. Vermutlich gibt es auch im Umfeld seiner neuen Lagerstätte Streit. Denn zumindest eines darf als sicher gelten: Dass der obdachlose Mann in seinem Zustand nicht mehr merkt, wie extrem seine Freiheit mit der Unfreiheit anderer einhergeht.
INTERVIEW
„Duschen macht manchen Angst“
Der Obdachlose Jim lebt seit vielen Jahren auf der Straße – und lässt sich nicht helfen, obwohl er offensichtlich extrem verwahrlost und verelendet ist. Es sei im Grundgesetz verankert, dass Menschen ihr Leben frei gestalten dürften, sagt Sozialarbeiterin Ramona Pold. Man müsse es manchmal einfach akzeptieren, dass Menschen keine Hilfe annehmen.
Frau Pold, warum lassen sich Obdachlose wie Jim nicht helfen?
Sie leben so lange auf der Straße, sie finden einfach nicht ins System zurück. Obdachlose, die so extrem verwahrlost sind, zumeist sind es Männer, haben sich oft körperlich so aufgegeben, dass sie sich bewusst gar nicht mehr wahrnehmen. Möglicherweise sind sie seit vielen Jahren sucht- oder alkoholabhängig, möglicherweise psychisch krank. Sie haben kein Körpergefühl mehr und keine Krankheitseinsicht. Wenn wir ihnen im Tagestreff der Caritas anbieten zu duschen, macht ihnen das manchmal sogar Angst.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich habe einen Obdachlosen im Tagestreff immer wieder gefragt, ob er nicht endlich duschen will. Nach langem Bitten war er bereit. Glaubte ich zumindest. Tatsächlich hat er sich im Bad eingesperrt und eine halbe Stunde im Duschraum gekauert.
Warum?
Die Körper von sehr verwahrlosten Obdachlosen sind oft total ausgezehrt. Wenn sie sich aus ihren Anziehsachen gepellt haben, fühlen sie sich schutzlos, nackt, ihnen ist kalt. Wenn sie geduscht haben, sind die Haare vielleicht noch nass, die neuen Klamotten sitzen nicht wie die alten, schmutzigen. Was wir neu und sauber finden, ist ihnen unangenehm, fremd.
Warum weist man jemanden, der psychisch krank zu sein scheint, nicht in die Psychiatrie ein oder stellt ihn medikamentös ein?
Solange jemand seinen freien Willen äußern kann und sich selbst oder andere nicht gefährdet, geht das nicht. Es ist im Grundgesetz verankert: Jeder darf sein Leben so gestalten, wie er es möchte.
Hat die extreme Verwahrlosung in der Corona-Krise zugenommen?
Definitiv. Obdachlose sind täglich hohem Stress ausgesetzt. Woher bekomme ich Essen, woher möglicherweise Alkohol, Drogen, wo kann ich im Warmen sitzen, schlafen? In der Corona-Krise sind so viele Hilfsangebote reduziert, da ist alles noch viel schwieriger. In den Tagestreff passen normalerweise 48 Leute. Unter Hygieneregeln sind es gerade einmal zwölf.
Was kann man tun?
Man muss dafür sorgen, dass es genug Hilfsangebote in der Stadt gibt und immer wieder auf die Menschen zugehen. Aber ich denke, die Gesellschaft muss es auch aushalten, dass manche Menschen sich nicht helfen lassen wollen.
HAZ vom 09.10.2020, S. 15:
Obdachlose dürfen nicht im Naturfreundehaus überwintern
Caritas befürchtet durch Schließung Probleme für Wohnungslose in der kalten Jahreszeit.
Stadt verweist auf Modellprojekt. Das startet aber erst 2021.
Von Jutta Rinas
Ausgerechnet jetzt, mit Beginn der kälteren Jahreszeit, beendet die Stadt Hannover ein Erfolgsprojekt in Sachen Unterkunft für Obdachlose. Die Notunterbringung von wohnungslosen Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie im Naturfreundehaus endet am 15. Oktober. Daran gibt es heftige Kritik. Laut Caritas geht damit nicht nur ein erfolgreiches Modell zur Integration wohnungsloser Menschen zu Ende. Ihnen werde „im bevorstehenden Winter ein wichtiger Schutzraum vor Kälte und Ansteckung genommen“.
Quelle: Kutter
Der Hintergrund: Die Verwaltung hatte in dem Gästehaus nahe der Eilenriede Obdachlose einquartiert. Zuvor waren seit April dieses Jahres schon die Jugendherberge Hannover und das Hotel Central zu demselben Zweck umfunktioniert worden. Corona-Krise und Schließungen von Betreuungseinrichtungen hatten das Leben auf der Straße enorm erschwert. Womit niemand rechnete: Gar nicht so wenige der Wohnungslosen stabilisierten sich mithilfe dieser Kooperation von Stadt, Region, Land und Betreiber Caritas, fanden zumindest ein Stück weit wieder in einen normalen Alltag zurück. Als Mitte August der Umzug ins Naturfreundehaus stattfand, musste die Stadt noch 45 von ursprünglich 100 Personen unterbringen. Alle anderen hatten eine Wohnung oder eine betreute Wohngruppe gefunden.
Die etablierten Anlaufstellen für Obdachlose seien auf die aktuellen Herausforderungen vorbereitet, Hygienekonzepte angepasst worden. Deshalb lasse man das Nothilfeangebot im Naturfreundehaus auslaufen, heißt es jetzt vonseiten der Stadt. Die 28 verbliebenen Wohnungslosen versuche man noch unterzubringen. Die guten Erfahrungen mit der Corona-Notunterbringung wollten Stadt und Region in ein Modellprojekt einfließen lassen. Die Frage ist aber, warum dies zeitlich nicht direkt an die Nothilfe anschließt. Ein Konzept von Caritas und Diakonie liegt der Verwaltung nach Angaben der Caritas seit Langem vor. „Warum setzt sich die Verwaltung nicht mit den Trägern an einen Tisch?“, fragt auch Reinhold Fahlbusch vom Verein Stimme der Ungehörten. Seit Monaten könne man sich mit dem Thema beschäftigen, jetzt sei die Lösung immer noch fern.
Tatsächlich sollte bereits im September im städtischen Sozialausschuss über das Modellprojekt mit dem komplizierten Namen „Plan B – OK“ abgestimmt werden. Im letzten Moment wurde es von der Tagesordnung genommen. Start des Modellprojekts soll jetzt im nächsten Jahr sein. Der erste Winter unter Corona-Bedingungen ist dann möglicherweise schon wieder vorbei.
HAZ vom 23.09.2020, S. 17:
Stadt bekommt Trinkerszene nicht in den Griff
Verwaltung räumt ein: Auf dem Weißekreuzplatz und am Marstall hat sich trotz Ordnungsdienst wenig verändert / Trinker, Dreck und Drogen – Anwohner schlagen in Bezirksratssitzung Alarm
Von Andreas Schinkel und Katrin Kutter
Hannover. Lärmende Trinker, Verunreinigungen mit Kot und Urin, Drogenhandel und Prostitution – auf Hannovers Pro-blemplätzen, dem Weißekreuzplatz und dem Marstall, wird die Lage nicht besser, im Gegenteil. Anwohner haben jetzt in der Sitzung des Bezirksrats Mitte am Montagabend Alarm geschlagen und Zustimmung sowohl vonseiten der Bezirksratspolitiker als auch der Stadtverwaltung bekommen.
Reine Symbolpolitik?
„Die Hinweisschilder auf gutes Benehmen sowie der Ordnungsdienst sind reine Symbolpolitik“, sagt ein Anwohner des Weißekreuzplatzes in der Sitzung. Müde sei er geworden nach den Bürgerversammlungen, den vielen Diskussionen, die doch nichts gebracht hätten. „Ich bin es müde, meinen Kindern zu erklären, warum sich die Menschen auf dem Platz noch immer anbrüllen“, sagt er. Unverständlich bleibe auch, warum der Weißekreuzplatz aktuell von etwa 50 Menschen okkupiert werde und alle anderen, die nicht den lieben langen Tag „Genussmittel“ zu sich nähmen, ausgeschlossen seien. „Wenn ich schlecht gelaunt bin, denke ich: Die sollen einfach verschwinden“, sagt er.
Die Rede des Anwohners trifft im Bezirksrat auf Zustimmung. „Sie haben Recht“, sagt Stadtbezirksmanagerin Claudia Göttler. Tatsächlich seien von den Ideen aus der Bürgerbeteiligung vor zwei Jahren nur Kleinigkeiten umgesetzt worden. Eine davon ist ein Regelkatalog, der für alle gelten soll, die sich auf dem Platz aufhalten: lautstarke Musik vermeiden, Abfall in Mülleimern entsorgen, Hunde anleinen, die öffentliche Toilette benutzen. Ein Schild auf dem Platz weist auf die Regeln hin, in Wort und Bild. Der Ordnungsdienst soll auf die Einhaltung der Vorschriften achten.
Szenen wie im „Tatort“
Zwar schaut der Ordnungsdienst nach Angaben der Stadt mehrmals am Tag auf dem Weißekreuzplatz nach dem Rechten, doch scheint das kaum Wirkung zu erzielen. „Die Ordnungshüter gehen meist am Rande des Platzes vorbei“, berichtet SPD-Bezirksratsfrau und Anwohnerin Gunda Pollok-Jabbi abseits der Sitzung. Ihre Genossen sehen den Ordnungsdienst inzwischen auch kritisch. „Es ist schade, dass der Dienst so wenig ausrichten kann. Er ist ein zahnloser Tiger“, sagt SPD-Fraktionschef Michael Sandow.
Eine andere Sicht haben Sozialarbeiter vor Ort. Einer berichtet der HAZ, dass sich die Obdachlosen auf dem Weißekreuzplatz friedlich verhielten. „Die achten darauf, dass nichts verschmutzt“, sagt er. Inzwischen versammelten sich aber auch Angehörige anderer Szenen, etwa vom Raschplatz und Andreas-Hermes-Platz, auf dem Areal. Das führe zu neuen Konflikten.
Die Polizei stellt auf Nachfrage der HAZ in den vergangenen Jahren einen leichten Rückgang der begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten auf dem Weißekreuzplatz fest. Zumeist handele es sich um Delikte innerhalb der Gruppen, die sich auf dem Platz aufhalten. „Es wird dabei deutlich, dass der Zulauf – auch aufgrund der steigenden Anzahl von Nichtsesshaften aus Osteuropa – leicht ansteigend ist“, teilt eine Polizeisprecherin mit. Die Polizei reagiere mit regelmäßigen Streifengängen.
„Es ist schlimmer geworden“
Auf dem Marstall am Rande des Rotlichtviertels hat sich die Lage trotz Einsätzen von Ordnungsdienst und Polizei offenbar nicht beruhigt. „Es ist schlimmer geworden“, meint eine Anwohnerin im Bezirksrat. Sie zähle 20 Prostituierte, die mitten auf dem Platz ihren Geschäften nachgingen. Drogen werden verkauft und konsumiert, zuletzt habe es eine Messerstecherei gegeben. „Das sah aus wie in einer ,Tatort’-Folge“, sagt die Anwohnerin.
Auch für die Polizei gehört der Marstall zu den Brennpunkten. Drogenhandel, unerlaubte Prostitution und Lärmbelästigung durch Autoposing stünden im Fokus. Man reagiere darauf mit Kontrollen und Polizeipräsenz, sagt eine Sprecherin. „In der Folge ist aus Sicht der Polizei für den Marstall im Vergleich zur ersten Hälfte des Vorjahrs eher eine Verbesserung der Situation eingetreten“, sagt die Sprecherin. Problematisch sei aber, dass sich Menschen auf dem Platz mit denjenigen solidarisierten, gegen die die Beamten einschritten.
„Sexarbeit ist urbane Realität“
Eine andere Sicht vertritt eine Sozialarbeiterin der Beratungsstelle für drogensüchtige Frauen La Strada. „Sexarbeit ist eine urbane Realität“, sagt sie in der Sitzung. Das Problem sei, dass die Frauen häufig vertrieben würden. „Alles ballt sich auf wenigen Plätzen“, sagt die Sozialarbeiterin. Man müsse sich darüber unterhalten, wie die öffentlichen Orte in der Innenstadt genutzt werden dürfen.
Vom Unterhalten über Nutzungsbedingungen haben die Anwohner des Weißekreuzplatzes genug. „Ich erlebe hier fast jeden Abend Polizeieinsätze“, sagt SPD-Bezirksratsfrau und Anwohnerin Pollok-Jabbi. Politik und Stadtverwaltung müssten sich fragen, wo sie Prioritäten setzen wollen – bei denen, die am Weißekreuzplatz wohnen, oder bei denen, die dort zum Zechen hinkommen.
So einfach sei es nicht, entgegnet die Sozialarbeiterin. „Die Menschen haben eine Erkrankung, schaffen es aber nicht, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt sie. Da der Wohnraum knapp sei, gebe es immer mehr Drogensüchtige auf der Straße. „Es ist für alle schwierig“, sagt sie.
Quelle: Dröse
HAZ vom 26.08.2020, S. 15:
Raschplatz: „Verelendung ist gestiegen“
Gastronom erwägt Klage gegen die Stadt Hannover / Diakonie: Brauchen größere Betreuungsräume / Kosten für Umbau der ehemaligen Polizeistation gehen in die Millionen
Von Andreas Schinkel
Trinkgelage, Rauschgiftkonsum, Handel mit harten Drogen – auf dem Raschplatz hinterm Bahnhof Hannover nehmen die Probleme zu. Das berichten Anlieger und auch die Diakonie Hannover. „Das Ausmaß der Verelendung ist gestiegen“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Die Situation habe sich verschärft, meint auch Bezirksbürgermeisterin Cornelia Kupsch (CDU). Der Gastronom Massoud Kader, Betreiber der Cocktailbar Amaro am Raschplatz, erwägt, die Stadtverwaltung zu verklagen. „Es ist extrem schlimm geworden. So kann es nicht weitergehen“, sagt er.
Verstärkter Ordnungsdienst
Seit Jahren ist der Raschplatz ein Treffpunkt für Trinker, Obdachlose und Drogensüchtige, daran konnte auch der Umbau nichts ändern. Nach etlichen Beschwerden reagierte die Stadtverwaltung. Der Ordnungsdienst verstärkte seine Kontrollen, auch Polizei und die Sicherheitsfirma Protec schauten häufiger auf dem Platz nach dem Rechten. Die Diakonie eröffnete den Rückzugsraum „Kompass“ für Trinker und Obdachlose. Der Raum platzt inzwischen aus allen Nähten, auch der Obdachlosen-Kontaktladen Mecki hat kaum noch Platz für die Bedürftigen.
Quelle: Villegas
Süchtige auf den Treppen
Eigentlich sollte Mecki in die ehemalige Polizeistation auf dem Raschplatz umziehen, doch das Vorhaben stockt. Das liegt nach Informationen der HAZ daran, dass die Dienststelle mit erheblichem Aufwand umgebaut werden müsste. Die Rede ist von Kosten im siebenstelligen Bereich. Wie der Umbau finanziell gestemmt werden kann, darüber liefen derzeit Gespräche, heißt es.
„Ich betreibe seit neun Jahren eine Gastronomie am Raschplatz und kann sagen: Es ist immer schlimmer geworden“, sagt Kader. Inzwischen habe er beobachtet, dass auf dem Platz auch harte Drogen konsumiert werden. Ein junges Pärchen aus Berlin habe er kürzlich bewirtet, und die hätten mit Blick auf die Süchtigen auf den Freitreppen gefragt, ob es immer so zugehe auf dem Platz. „Dabei war zu dem Zeitpunkt wenig los“, meint Kader. An warmen, sonnigen Tagen zählt er bis zu 100 Szenegänger.
Erst kürzlich gab der Duke Irish Pub am Raschplatz auf. Inhaber Felix Förster begründete die Entscheidung damit, dass angeblich Betrunkene vom Raschplatz hineingekommen und Gäste beleidigt hätten. Doch es gibt Zweifel an dieser Darstellung. „Eigentlich bleibt die Szene unter sich und sucht keine Gastronomien auf“, sagt Diakoniepastor Müller-Brandes.
„Prohibition hat nie geholfen“
Wie soll es nun weitergehen? „Am besten wäre ein Alkoholverbot für den Platz“, sagt Amaro-Inhaber Kader. Dann könne die Polizei durchgreifen. Von einem solchen Verbot hält Diakoniepastor Müller-Brandes wenig. „Prohibition hat noch nie geholfen“, sagt er. Das Problem verlagere sich nur, weil die Süchtigen ihren Alkohol 200 Meter weiter trinken.
Bezirksbürgermeisterin Kupsch will jetzt die Stadt bitten, sich der Probleme intensiver anzunehmen. „Die Bemühung war da, aber es hat sich nicht wirklich etwas verbessert“, sagt sie.
HAZ vom 24.07.2020, S. 18:
Planung für Unterkunft abgelehnt
Stadt will 250 Schlafplätze schaffen
Der Bezirksrat Ricklingen hat Planungen der Stadtverwaltung für eine neue Notunterkunft für Obdachlose in Bornum einstimmig abgelehnt. Die Entscheidungsvorlage sei „schlecht gemacht“ und „verwirrend“, fasste Bezirksbürgermeister Andreas Markurth die Kritik zusammen, die quer durch alle Fraktionen aufkam. Der Bezirksrat lehne nicht grundsätzlich die Idee ab, Menschen in Not ein Obdach zu geben. Es gehe den Bezirksratsmitgliedern um Transparenz. Die neue Unterkunft wäre die größte ihrer Art in der Landeshauptstadt.
„Keine großen Schlafsäle“
Es geht dabei um ein Gewerbegrundstück, das die Stadt nun umwidmen will. „Statt Gewerbebetrieb soll dort Gemeinbedarf möglich sein“, erläuterte Stadtplaner Hans-Heiner Schlesier. Das Baurecht solle so geändert werden, dass Menschen ohne eigene Wohnung in Notzeiten – im Winter beispielsweise – von der Stadt eine Unterkunft auf Zeit zugewiesen werden kann.
Die Stadt will bis zu 250 Schlafplätze schaffen. Das ist keine Kleinigkeit: Die bisher größte städtische Notunterkunft in Vahrenheide bietet 150 Plätze. Die Verwaltung bezeichnet ihr Vorhaben als „Notschlafstelle zur Unterbringung von Wohnungslosen“. Die linksliberale Mehrheit aus SPD, Grünen, Piraten, Linke und FDP wollte mit einem ergänzenden Antrag zunächst selbst für Klarheit sorgen.
Darin wurde eine maximale Zahl von 120 Plätzen gefordert sowie die Ausrichtung auf eine Unterbringung Obdachloser – inklusive einer sozialen Betreuung durch Fachpersonal sowie einem „Mindestmaß an menschenwürdiger Privatsphäre“ für jede Person. Große Schlafsäle, die auch in anderen hannoverschen Notunterkünften viele Obdachlose eher abschrecken, sollen vermieden werden.
Quelle: Behrens
HAZ vom 23.07.2020, S. 21:
Stellwerk gedenkt der Drogentoten
Neun Menschen sind im Jahr 2019 an den Folgen ihrer Rauschmittelsucht gestorben
Von Tobias Morchner
Hannovers Drogenkonsumenten und deren Angehörige haben am Dienstag den im vergangenen Jahr verstorbenen Rauschgiftabhängigen gedacht. Neun Menschen sind im Jahr 2019 an den Folgen ihres Betäubungsmittelkonsums verstorben. Doch eine andere Zahl belegt, wie dramatisch die Situation in der niedersächsischen Landeshauptstadt ist. „Wir hatten im vergangenen Jahr knapp über 60 Drogennothilfefälle in unserer Einrichtung – Fälle, von denen wahrscheinlich die Hälfte schlimm geendet hätte, hätten wir nicht rechtzeitig eingegriffen“, sagt Vikas Bapat, Leiter des Stellwerks am Hauptbahnhof Hannover.
Quelle: Behrens
Das Stellwerk beherbergt Niedersachsens einzigen Drogenkonsumraum. Dort bekommen die Suchtkranken saubere Spritzen und können in hygienisch guten Zuständen ihre Drogen zu sich nehmen. Außerdem werden sie dort mit Essen und Getränken versorgt, es gibt eine Möglichkeit, die Wäsche zu waschen und mit Beratern der Suchthilfeorganisation Step, die das Stellwerk betreibt, ins Gespräch zu kommen.
Feier in kleinerem Rahmen
Zu den Drogennotfällen kommt es in der Einrichtung aus den unterschiedlichsten Gründen. Manche Konsumenten haben verunreinigten Stoff gekauft. „Manche unterschätzen die Menge, nehmen dann zu viel und kollabieren“, sagt Bapat. Wegen der Corona-Bestimmungen ist der Gedenktag in diesem Jahr kleiner ausgefallen.
Die Organisatoren verzichteten auf die sonst übliche Gedenkveranstaltung und die Livemusik. Die Betroffenen konnten aber vor Ort Holzklötze mit den Namen der Verstorbenen bemalen und zu einer Mauer aufstellen. Zudem bot das Stellwerk den Suchtkranken die Möglichkeit an, ihre Gedanken zu dem Tag in eine Sprechblase zu schreiben, die anschließend online veröffentlicht wurden.
Wie es mit den Angeboten des Stellwerks im Herbst und im Winter unter Corona-Bedingungen weitergehen wird, ist noch unklar. „Das Café können wir bislang nicht betreiben, dazu sind die Räume zu klein“, sagt Bapat. Er denkt über eine Lösung mit beheizbaren Containern auf dem Platz vorm Stellwerk nach. „Aber das kostet Geld, das wird vermutlich schwierig.“
Improvisation zu Krisen-Beginn
Improvisationstalent haben die Helfer von Step bereits zu Beginn der Corona-Krise bewiesen. Als sie Mitte März von einem Tag auf den anderen schließen mussten, weil die Schutzausrüstung für die Mitarbeiter nicht ausreichend vorhanden war, gaben sie die Spritzen, das Essen und die Getränke mit einer langen Schaufel draußen an die Betroffenen weiter. „Uns fällt dann auch im Winter bestimmt etwas ein“, sagt Bapat.
HAZ vom 16.07.2020, S. 16:
Neues Wohnprojekt soll Obdachlosen helfen
Stadt und Region wollen Erfahrungen aus Jugendherberge nutzen / Demonstration in der City
Von Bärbel Hilbig
Hannover. Die Erleichterung unter den Obdachlosen in der Jugendherberge ist groß. Knapp vor dem Auszugstermin haben Stadt und Region Hannover zwei neue Unterkünfte für die gut 60 Menschen gefunden. Nach HAZ-Informationen geht es zunächst um das Hotel Central in der Seilwinderstraße gegenüber der Marktkirche und dann um ein Jugendgästehaus in Groß-Buchholz. „Das ist gerade zur rechten Zeit gekommen“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Die Obdachlosen sollen dort angesichts der Corona-Pandemie Schutz vor einer möglichen Infektion finden. Damit ist die befristete Betreuung der Obdachlosen für die nächsten drei Monate gesichert.
Doch wie geht es danach weiter? Caritas und Diakonie fordern angesichts der guten Erfahrungen in der Jugendherberge eine neue Einrichtung für Obdachlose. Gedacht ist an ein Haus mit Einzelzimmern, in dem die Menschen für einige Wochen – betreut von Sozialarbeitern – zur Ruhe kommen und sich neu orientieren können. „Sie sind dann offener für Beratung und die nächsten Schritte aus der Wohnungslosigkeit. Notschlafplätze bieten keine Perspektive“, sagt Müller-Brandes.
Entwurf soll im Herbst vorliegen
Stadt und Region wollen das Konzept jetzt offenbar aufgreifen. Im Gespräch ist ein Modellprojekt, das eine Kombination von Unterbringung und sozialpädagogischer Hilfe in einer Orientierungs- und Klärungsphase vorsieht. „Letztlich geht es darum, diese besonders schutz- und hilfsbedürftigen Menschen zu begleiten und zu unterstützen“, sagt Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). „Deshalb freut es mich besonders, dass wir in dieser schweren Zeit bereits zwölf Menschen in neue Arbeitsverhältnisse vermitteln konnten.“
Die Regionsversammlung hat am Dienstag bereits einstimmig einen Modellversuch befürwortet. „Viele Obdachlose konnten jetzt neue Perspektiven entwickeln, deshalb ist es wichtig, ein vergleichbares Angebot zu erhalten“, sagt Regionssozialdezernentin Andrea Hanke. Die Stadtverwaltung Hannover will den Ratsgremien im Herbst dazu einen Entwurf vorlegen.
Unterdessen haben am Mittwochnachmittag rund 100 Obdachlose und engagierte Bürger in der Innenstadt von Hannover für eine bessere Unterbringung wohnungsloser Menschen demonstriert. „Wir fordern, dass alle wohnungslosen Menschen in Hannover in Einzelzimmern angemessen untergebracht werden. Massenunterkünfte Bett an Bett wie am Alten Flughafen sind aus unserer Sicht menschenunwürdig“, sagt Alexander Eisele, Sozialarbeiter der Selbsthilfe für Wohnungslose (Sewo). Abgesehen von diesen Notschlafplätzen seien auch in anderen Unterkünften Doppel- und Dreibettzimmer Standard, kritisiert Sewo-Geschäftsführer Jan Goering.
Quelle: Franson
In der Ratspolitik gibt es positive Signale für ein Modellprojekt. Angesichts der Haushaltslage legt CDU-Fraktionschef Jens Seidel allerdings Wert darauf, dass sich andere beteiligen. „Wir unterstützen das Projekt ausdrücklich. Und wir brauchen insgesamt eine Verbesserung der Standards in den Obdachlosenunterkünften“, betont Freya Markowis, Grünen-Fraktionschefin im Rat. SPD, Grüne und FDP haben sich deshalb bereits darauf geeinigt, dass das Thema künftig im Sozialdezernat angesiedelt wird.
HAZ vom 15.07.2020, S. 17:
„Wir haben gesehen, wie das Leben sein kann“
Während der Corona-Krise brachte die Stadt Hannover Obdachlose in einer Jugendherberge unter. Für viele war das ein Neuanfang – nun müssen sie raus. Wie geht’s weiter?
Von Bärbel Hilbig
Eigentlich sollte das Quartier in der Jugendherberge Obdachlose vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen. Das Leben in hygienischen Verhältnissen hat vielen Bewohnern jedoch noch viel mehr gebracht. So ziehen manche jetzt in betreute Wohngruppen oder Wohnheime. Einige haben sogar bereits wieder Arbeit gefunden oder den Mut gefasst, zu ihren Familien zurückzukehren. „Wir haben hier gesehen, wie das Leben sein kann, wenn es wieder normal ist“, sagt Franz Bauer. Körperpflege, sich jederzeit die Hände waschen können – für Obdachlose erscheint das als unerwarteter Luxus.
Bauer schlief vorher nachts in der Notunterkunft Alter Flughafen. Die Betten stehen dort dicht an dicht im Abstand von 50 Zentimetern. „Das bedeutet Stress pur. Man findet nachts keine Ruhe, es gibt keine Privatsphäre.“ In der Jugendherberge bezogen die Obdachlosen Einzelzimmer mit Dusche. Es gab Männer, die weinend zusammengebrochen sind, als sie das sahen. Sie bekamen Schlüssel, mit denen sie hinter sich abschließen konnten.
Quelle: Franson
Geregeltes Leben ist das Ziel
„Wir mussten nicht raus, wenn wir das nicht wollten“, berichtet der 58-jährige Bauer. Auf einmal konnten die Männer sich ausruhen, Krankheiten heilten aus. Und sie kamen zum Nachdenken. All das hat das Vertrauen in die Sozialarbeiter gestärkt. Bauer zieht jetzt in eine Wohngemeinschaft. „Mein Ziel ist ein geregeltes Leben. Es soll wieder vorwärtsgehen.“
Bis zu 107 Menschen lebten seit Mitte März zeitgleich in der Jugendherberge. Etliche fanden in der Zwischenzeit bereits eine neue Bleibe, einige zogen diese Woche um. Doch rund 80 Obdachlose drohten am 15. Juli, mit Auslaufen des Mietvertrags, wieder auf der Straße zu landen. Bis Dienstagabend sank die Zahl auf gut 60 Menschen, weil die Sozialarbeiter sich bis zur letzten Minute bemühten. Stadt und Region Hannover haben für diese 60 wider Erwarten am Dienstag doch noch kurzfristig eine Lösung gefunden. Sie sollen voraussichtlich Mittwoch in ein zentral gelegenes Hotel in Hannover sowie ein Gästehaus umziehen.
Zuvor gab es drängende Appelle und Proteste. Caritas und Diakonie, die die Obdachlosen in der Jugendherberge betreuten, verfassten einen Brief an den Oberbürgermeister, die Niedergerke-Stiftung bot Hilfe an und der Verein Selbsthilfe für Wohnungslose organisierte für den 15. Juli eine Demonstration. Stadt, Land Niedersachsen und Region haben die befristete Unterbringung in der Jugendherberge finanziert. Land und Region hatten bereits signalisiert, dass sie weiter Geld geben.
Die Erfahrungen mit der besonderen Situation in der Jugendherberge haben alle überrascht. „Ich hätte vorher nie erwartet, dass sich so viele Obdachlose helfen lassen“, sagt Projektkoordinatorin Ramona Pold. Und das, obwohl die 49-Jährige seit neun Jahren in der Wohnungslosenhilfe arbeitet. Die Sozialarbeiter bekamen Zeit, in der sie Vertrauen zu den Bewohnern aufbauen und eine passende Unterbringung vermitteln konnten. Dennoch sieht Pold ein Problem: Es gibt bei Weitem nicht genügend Plätze in Hilfseinrichtungen.
Krankheiten heilen
Um so glücklicher ist Michael Terhorst, dass er Platz in der Jugendherberge fand. „Ich hatte von Leuten davon gehört. Und die Sozialarbeiter haben mir schwer geholfen“, lobt der 59-Jährige. Er lebt seit Dienstag in einer betreuten Wohngemeinschaft, sein Asthma hat sich stark gebessert.
Christopher zieht jetzt wieder zu seinen Eltern. Der 29-Jährige hatte im November seine Wohnung verloren, auch er schlief nachts am Alten Flughafen, jetzt ist er bereit für einen Neustart. Nächste Woche tritt der gelernte Tischler eine neue Arbeitsstelle an. Und auch für den noch jüngeren Timo endet jetzt eine lange Zeit, die er überwiegend auf der Straße verbrachte. Eine Familie hat er nicht, in Wohngruppen für Jugendliche blieb er wegen seiner Drogenprobleme nie lange. Mit Unterbrechungen war der junge Mann seit fünf Jahren obdachlos, Schulabschluss und Ausbildung fehlen. Das will Timo nachholen. „Ich konnte jetzt nachdenken. Mit 21 Jahren wird es Zeit.“
HAZ vom 13.07.2020, S. 13:
Stadt findet keine Lösung für Obdachlose
Wohnungslose müssen Jugendherberge am 15. Juli verlassen / Kritik von Fahlbusch
Von Bärbel Hilbig
Die Unterbringung von Obdachlosen in der Jugendherberge Hannover läuft in wenigen Tagen aus. Eine Lösung für die rund hundert Menschen ist aber bisher nicht in Sicht. „Die Stadt fasst das Problem nicht beherzt genug an und vermittelt den Eindruck großer Hilflosigkeit“, kritisiert Reinhold Fahlbusch, der sich mit dem Verein Stidu für Obdachlose engagiert. Er befürchtet nun, dass die Betroffenen bald wieder auf der Straße stehen.
Seit Mitte April leben die Obdachlosen in der Unterkunft am Maschsee, meist in eigenen Zimmern mit Dusche. Caritas und Diakonie kümmern sich um die Bewohner, die nun zumindest für drei Monate befristet eine feste Bleibe hatten. Bei etlichen hat das eine Neuorientierung angestoßen, so berichteten Mitarbeiter kürzlich im Sozialausschuss der Region. „Die Menschen sind in die Lage versetzt worden, die Straße zu verlassen und unter sozialpädagogischer Betreuung in vier Wänden zu leben. Sie sind geradezu aufgeblüht“, schildert es Fahlbusch.
Quelle: von Meding
Die Stadt hatte die Jugendherberge angemietet, damit Obdachlose in der Corona-Pandemie Schutz finden. Beim Leben auf der Straße und in engen Mehrbett-Unterkünften für eine Nacht lassen sich Hygiene- und Abstandsregeln dagegen nicht einhalten. Doch genau diese Situation droht nun ab dem 15. Juli wieder einzutreten. „Es braucht nur eine Infektionswelle hochzuschwappen“, befürchtet Fahlbusch.
Stadt, Region und Land haben das Projekt bisher gemeinsam finanziert, Caritas und Diakonie die Unterkunft betrieben. Ein Problem scheint die Suche nach einem geeigneten Gebäude zu bereiten. Fahlbusch hat dafür angesichts der Dringlichkeit des Problems wenig Verständnis. Er hat gleich mehrere städtische Gebäude im Sinn, die aktuell leer stehen.
Kein Ersatz in Sicht
Die Region Hannover geht nicht davon aus, dass im direkten Anschluss eine Unterkunft bereitsteht. Sie strebt zur Fortsetzung ein gemeinsam mit Stadt und Land finanziertes Modellprojekt an. Damit das gegebenenfalls auch kurzfristig klappt, entscheidet die Regionsversammlung am 14. Juli darüber. „Die weitere Anmietung der Jugendherberge ist dabei keine Option, die Suche nach einer Immobilie läuft aber mit Hochdruck, um den Anschluss an das Projekt so zügig wie möglich zu gewährleisten“, sagt Regionssozialdezernentin Andrea Hanke.
Die Stadt betont, alle Beteiligten prüfen direkte alternative Anschlussmöglichkeiten, um obdachlosen Menschen weiterhin Schutz vor der Infektion zu bieten. Die Menschen in der Jugendherberge werden außerdem aktuell vor Ort über die mögliche Unterbringung in städtischen Unterkünften oder bei anderen Trägern beraten.
HAZ vom 30.06.2020, S. 19:
„Die Unterbringung muss weitergehen“
Rund 100 Obdachlose nehmen Angebot in der Jugendherberge wahr – aber was ist ab Mitte Juli?
Von Mathias Klein
Diakonie und Caritas wünschen sich auch künftig eine dauerhafte Bleibe für Obdachlose wie derzeit in der Jugendherberge Hannover. „Die Unterbringung muss weitergehen“, sagte Ramona Pold von der Caritas im Sozialausschuss der Region.
Seit rund zwei Monaten sind in der Jugendherberge Hannover Obdachlose untergebracht. Ihnen sollte damit während der Corona-Pandemie ein geschützter Raum geboten werden. Am 15. Juli läuft das Projekt aus, weil anschließend die Jugendherberge wieder ihren normalen Betrieb aufnehmen will. Die Sozialdezernentin der Region, Andrea Hanke, berichtete von rund 100 Menschen, die das Angebot regelmäßig wahrgenommen haben.
Nach den drei Monaten werden der Region rund 340.000 Euro Kosten entstanden sein. Insgesamt betragen die Kosten rund eine Million Euro, Landeshauptstadt und Land Niedersachsen sind an den Kosten zu gleichen Teilen beteiligt.
„Wir haben festgestellt, dass die Menschen, die in der Jugendherberge sind, einfach mal zu sich kommen können“, berichtete Pold im Ausschuss. Ein Großteil der Wohnungslosen in der Jugendherberge habe eine „scharfe Wandlung“ mitgemacht. Die Menschen hätten durch die dauerhafte Unterbringung wieder Hoffnung geschöpft. Die Lehre sei, die Menschen künftig nicht mehr in Massenunterkünften unterzubringen. „Und das müssen dann auch Einzelzimmer sein“, betonte sie, wie bei dem Projekt in der Jugendherberge Hannover. Dort hat fast jeder der Bewohner auf Zeit auch eine eigene Dusche und ein eigenes WC.
Derzeit bereiteten Diakonie und Caritas unter dem Titel „Zwischenraum“ ein ähnliches Projekt vor, berichtete Ursula Büchsenschütz vom Diakonischen Werk. Konkrete Pläne gebe es aber noch nicht. Im Gegensatz zu den üblichen Unterbringungsmöglichkeiten für Wohnungslose, wo die Menschen lediglich die Nächte verbringen dürften, seien die Bewohner bei einer dauerhaften Bleibe wesentlich besser für andere Ansprechpartner zu erreichen, wie zum Beispiel für die Schuldnerberatung oder den sozialpsychiatrischen Dienst.
Quelle: von Meding
Bei der Regionspolitik und in der Verwaltung stößt der Wunsch auf breite Zustimmung. Allerdings wurde deutlich, dass es kein direktes Anschlussprojekt geben wird. Sozialdezernentin Hanke berichtete, dass die Verwaltung derzeit ein Konzept vorbereitet, das nach der Sommerpause vorgelegt werden soll. „Dann können wir gegebenenfalls eine ähnliche Einrichtung an den Start bringen“, sagte sie. Gewünscht sei aber auch dann, dass sich die Landeshauptstadt und das Land wie bisher an den Kosten beteiligten.
Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes reichte diese Perspektive nicht ganz. „Ohne Hoffnung können diese Menschen nicht leben.“ Er wünscht sich in einem Monat zumindest eine zeitliche Perspektive, wann das Projekt fortgesetzt werden soll. Es müsse gelingen, die „Hoffnung in die Herzen der Menschen zu pflanzen“, betonte Müller-Brandes.
HAZ vom 05.06.2020, S. 19:
Der Kältebus macht jetzt öfter Station
Helfer der Malteser versorgen Obdachlose regelmäßig mit Tee und Essen
Von Simon Benne
Frank ist schon da, als der Kleinbus auf dem Raschplatz vorfährt. Er erzählt von seiner Zeit im Gefängnis, von seinem Suchtproblem und von seinen finanziellen Engpässen. „Das Geld reicht nicht“, sagt der 49-Jährige. Darum ist er Stammkunde beim Kältebus der Malteser, der Obdachlose mit Tee und Essen versorgt. „Andere Einrichtungen haben wegen Corona geschlossen – da ist es ein Segen, dass es das gibt“, sagt er, als er Brötchen und einen Kaffee in Empfang nimmt.
Tatsächlich haben etliche Hilfseinrichtungen für Obdachlose wegen der Ansteckungsgefahr ihren Betrieb eingeschränkt. Die Stadt, die in der Corona-Krise anfangs täglich Hunderte von Mahlzeiten an Obdachlose ausgab, hat ihr Angebot Ende April wieder eingestellt. Der Malteser-Kältebus, der eigentlich nur von November bis März unterwegs ist, rollt aber weiter – und hat seine Einsätze sogar verdoppelt: Künftig macht er jeweils donnerstags und freitags um 18 Uhr am Raschplatz und anschließend am Kröpcke Station.
„Für viele Obdachlose gehört dies Angebot zur Grundversorgung“, sagt Kyra Kluck, Projektleiterin bei den Maltesern. Mit einem halben Dutzend Helfern verteilt sie am Raschplatz ofenwarme Zimtschnecken und Brötchen; teils haben Bäckereien diese gespendet. Bis zu 100 Menschen kommen bei jeder Bustour, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. „Sie sind sehr dankbar – und sie halten diszipliniert Abstand“, sagt die 26-Jährige. Sie plant, den Kältebus in diesem Jahr bis Oktober durchrollen zu lassen und dann nahtlos in den regulären Winterbetrieb überzugehen.
Quelle: Franson
Helfer mit Mundmasken reichen die Lebensmittel unter dem mobilen Spritzschutz hindurch, die Obdachlosen stehen Schlange. „Das sind erstklassige Waren“, sagt die 53-jährige Matthias zufrieden. „Es ist perfekt, dass es dieses Angebot gibt.“
Die Malteser suchen Isomatten, Schlafsäcke und Decken für Obdachlose. Infos: (05 11) 9 59 86 34.
HAZ vom 29.05.2020, S. 17:
Herberge bis Juli offen für Obdachlose
Stadt verlängert Angebote
Die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen hat vor allem Obdachlose hart getroffen. Die Stadt hat daraufhin dafür gesorgt, dass die Jugendherberge nahe dem Maschsee Übernachtungsmöglichkeiten für diese Menschen bereitstellt. Rund 100 Obdachlose haben das Angebot angenommen, jetzt soll es bis Mitte Juli verlängert werden. „Wir freuen uns über den großen Zuspruch zu diesem ungewöhnlichen Projekt“, sagt Sozialdezernentin Konstanze Beckedorf.
Die Kosten für Miete und Verpflegung werden weiter zu je einem Drittel vom Land Niedersachsen, der Region und der Stadt Hannover getragen. Ziel sei es, sagt die Stadt, einen Rückzugsort anzubieten, aber auch das Risiko der Verbreitung des Coronavirus auf der Straße zu reduzieren. Betrieben wird die Unterkunft von Caritas und Diakonie. „Viele Obdachlose berichten, dass sie Hoffnung und Kraft geschöpft haben, um neue Perspektiven für sich zu entwickeln“, sagt Beckedorf. Einige hätten bereits eine Arbeit gefunden, viele seien jetzt offener für weitere Hilfsangebote.
Quelle: von Meding
HAZ vom 30.04.2020, S. 22:
Drogenabhängige: Virus vergrößert Not
Preise für Heroin und Kokain steigen immer weiter an / Suchtkranke geraten unter Druck
Von Tobias Morchner
Der Geschäftsführer des hannoverschen Suchthilfeträgers Step, Serdar Saris, schlägt Alarm. Die Corona-Krise habe die prekäre Lage der rund 4000 bis 6000 Drogenabhängigen in der Region massiv verschärft. „Wegen der Grenzkontrollen werden die Drogen knapp, die Verkäufer strecken die Mittel immer häufiger, und die Preise steigen immer weiter nach oben“, sagt Saris. Die Folgen für die Betroffenen seien immens, sagt der Step-Geschäftsführer. Die Organisation betreibt unter anderem das Stellwerk am Hauptbahnhof Hannover, einem Treffpunkt der offenen Drogenszene der Landeshauptstadt.
„Unsere Klienten versuchen alles zu konsumieren, um ihre Sucht zu befriedigen und die Entzugserscheinungen so gering wie möglich zu halten“, sagt Saris. Wegen der angespannten Lage wechselten viele Abhängige zu Medikamenten oder würden ihre Sucht mit Alkohol bekämpfen. Ein weiteres Problem sei, dass den Suchtkranken wegen der Auswirkungen der Corona-Krise derzeit kaum Möglichkeiten zur Verfügung stünden, an Geld zu kommen, um ihre Sucht zu finanzieren. „Betteln, Flaschensammeln oder Prostitution, all diese Einkünfte fallen derzeit weg“, sagt Serdar Saris.
Auch die Arbeit im Stellwerk am hannoverschen Hauptbahnhof habe sich verändert. Dort werden zwar weiterhin für 150 bis 200 Betroffene Spritzen getauscht und Essen und Getränke ausgegeben. Dafür sind die Öffnungszeiten erweitert worden. Doch um die Klienten und Mitarbeiter zu schützen, sind Desinfektionsstellen aufgebaut und Abstandshalter auf dem Boden markiert worden. „Wir versuchen auch weiterhin, Beratungsgespräche zu führen – mit dem entsprechenden Abstand“, sagt Saris.
Der Kontakt zu den Abhängigen sei allein auch aus medizinischen Gründen extrem wichtig, so der Step-Geschäftsführer. „Es ist unbedingt notwendig, dass wir unsere Klienten regelmäßig sehen, um uns von ihrem körperlichen Zustand zu überzeugen und sie gegebenenfalls mit Abszessen oder anderen Verletzungen in Krankenhäuser schicken zu können“, sagt Saris. Einen Corona-Verdachtsfall habe es bislang bei den Klienten des Suchthilfeträgers Step noch nicht gegeben. „Nicht auszudenken, wenn das im Umfeld des Stellwerks auftreten würde, das wäre eine Katastrophe“, sagt Serdar Saris.
Quelle: Roessler/dpa
HAZ vom 11.04.2020, S. 17:
Jugendherberge steht für die Unterbringung von 200 Menschen bereit
Von Karl Doeleke
Schätzungsweise 5500 Wohnungslose gibt es in Hannover, rund 800 Menschen leben nach Angaben der Obdachlosenhilfe tatsächlich auf der Straße. Sie trifft die Corona-Krise besonders hart – etwa, wenn es heißt, man solle zur Eindämmung der Epidemie zu Hause bleiben.
Um die Gefahr der Ausbreitung auf offener Straße weiter einzudämmen, hat die Stadt nun eine zusätzliche Unterkunft für Obdachlose angemietet – die Jugendherberge in Maschsee-Nähe ist derzeit für Touristen ohnehin geschlossen. „Es ist gelungen, mit der Jugendherberge ein von Lage und Ausstattung her passendes Objekt zu finden“, sagt eine Stadtsprecherin. „Nachdem die Stadt zusammen mit der Jugendherberge und Trägern der Sozialarbeit die notwendigen Vereinbarungen geschlossen hat, kann der Betrieb zeitnah aufgenommen werden.“ Die Kosten für Miete, Verpflegung und Versorgung der Obdachlosen wollen sich Stadt, Region und Land teilen.
Bereits mehr als 1000 Wohnungslose sind in Unterkünften der Stadt untergebracht. Ungefähr 200 weitere Menschen sollen vermutlich nach Ostern in der Jugendherberge ein Dach über dem Kopf finden. Auch Caritas und Diakonie sind beteiligt. Die Obdachlosen sollen Verpflegung, Seelsorge und medizinische Versorgung erhalten. Die Hoffnung ist, dass sich die Obdachlosen freiwillig für die Zeit der vom Land verhängten Beschränkungen auf dem Gelände niederlassen und sich nicht mehr in Gruppen in der Innenstadt aufhalten.
HAZ vom 03.04.20, S. 17:
Sozialarbeiter: Obdachlose in Hotels unterbringen
In Notschlafstellen übernachten sie Bett an Bett. Menschen ohne Bleibe können sich vor Infektionen kaum schützen.
Von Simon Benne
Quelle: Schaarschmidt
Vor dem Virus sind alle Menschen gleich. „Der Oberbürgermeister und Prinz Charles haben es, aber von uns Obdachlosen hat es hier noch keiner“, sagt Andreas. Er sagt es ohne Schadenfreude. Seit zwei Jahren lebt der 59-Jährige auf der Straße. Die Nächte verbringt Andreas oft in Notschlafstellen wie dem ehemaligen Möbelhaus am Alten Flughafen. „Da steht Feldbett an Feldbett, und morgens muss man um 7 Uhr raus auf die Straße“, sagt er. Tagsüber sind die Unterkünfte nämlich geschlossen.
Menschen wie Andreas können nicht zu Hause bleiben, weil sie kein Zuhause haben. Die Gefahren, die vom Virus ausgehen, sind für manche dann eben doch ungleich größer als für andere. „Die Hotels stehen doch jetzt alle leer“, sagt Andreas, „warum können wir nicht vorübergehend dort bleiben?“
Auch Sozialarbeiter drängen darauf, Obdachlose angesichts der Pandemie in Einzelzimmern einzuquartieren, um die Infektionsketten zu unterbrechen. „Unsere Klienten zählen oft zu den älteren Risikopatienten“, sagt Pascal Allewelt, der im Obdachlosenladen Mecki arbeitet. „Die Stadt ist für ihre Unterbringung zuständig, sie müsste Hoteliers eine Pauschale für ihre Unterbringung bezahlen“, fordert er. Auch die Initiative „Solidarität statt Hamsterkäufe“ fordert, Obdachlose in Hotels einzuquartieren. Hannover solle sich dabei an Metropolen wie London orientieren, die so verfahren.
Der Mecki-Laden am Raschplatz ist zurzeit geschlossen. „Es gibt keine Schutzkleidung, die Infektionsgefahr in den engen Räumen wäre zu groß“, sagt Allewelt. „Wir haben uns dafür entschieden, stattdessen die Straßensozialarbeit auszubauen.“ An sieben Tagen in der Woche verteilen Helfer am Mecki jetzt vormittags belegte Brote und Getränke an Obdachlose. „Da kommen bis zu 200 Menschen“, sagt Allewelt. An der Tür werden sie auch provisorisch medizinisch versorgt.
„Wir haben uns unter Hochdruck auf die neue Situation eingestellt“, sagt Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Sucht- und Schuldnerberatung gehen nun meist telefonisch vonstatten. Und die Zentrale Beratungsstelle für Obdachlose in der Berliner Allee wurde kurzfristig umgebaut. Dort haben aktuell rund 800 Menschen ohne feste Wohnung ihre Postadressen, und dort wird ihnen auch Geld vom Jobcenter zugestellt. „Wir reichen ihnen Post und Schecks jetzt durch ein Fenster nach draußen“, sagt Ursula Büchsenschütz, die Leiterin der Einrichtung.
Rund 400 Menschen leben nach Schätzungen der Diakonie in Hannover obdachlos, Tendenz steigend. Angesichts der Corona-Krise verteilt die Stadt an verschiedenen Ausgabepunkten täglich 400 Essensportionen an Betroffene. Ihre Unterbringung sei jedoch ein Problem, sagt Müller-Brandes. Derzeit führe er Gespräche mit der Stadt: „Solange Obdachlose in Notschlafstellen in Mehrbettzimmern übernachten, erhöht dies die Infektionsgefahr immens.“
Die Diakonie braucht warme Winterbekleidung für Männer, ebenso werden abgepackte Hygieneartikel wie Duschgel und Rasierer benötigt. Infos zu Spenden gibt es unter (05 11) 990 40 59.
HAZ vom 31.03.20, S. 2:
„Bleiben Sie zu Hause!“ Das ist die Devise in Corona-Zeiten. Aber was, wenn es kein Zuhause gibt? Wenn der einzige vorübergehende Schutzraum ein Schlafsaal und Gemeinschaftsduschen sind? Bericht von einer Front, an der es keine Reserven gibt.
Von Thoralf Cleven
Wilhelm Nadolny steht auf der Straße, um seine Gäste willkommen zu heißen. Sie stehen Schlange in der kalten Märzsonne – Junge, Alte, Kranke, Junkies, Betrunkene, Laute, Stille. In wenigen Minuten, um 14 Uhr, beginnt die Essenausgabe in einer der bekanntesten evangelischen Stadtmissionen Deutschlands. Der 33-jährige Nadolny leitet die Bahnhofsmission Berlin Zoo.
Es gibt ein bisschen Gerangel, als sich ein alter Mann mit seinem Rollator ganz vorn einreiht. Ein junger Mann mit Zottelbart zupft dem Alten am Ärmel und ruft „nach hinten”. Nadolny greift ein. „Alles okay”, sagt er und bittet den alten Mann zu einer Nebentür. „Sie bekommen hier Ihren Kaffee.” Alle entspannen sich.
Das andere Social Distancing
Punkt zwei gehen die improvisierten Fensterklappen am Aufenthaltsraum der Bahnhofsmission auf. Links gibt es ein Lunchpaket – zwei Stullen mit Wurst oder Käse, ein Stück Kuchen, Obst. Rechts wird Kaffee im Plastikbecher nach draußen gereicht. Nadolny nickt dem einen oder anderen aufmunternd zu.
Die Versorgung findet seit mehr als zwei Wochen nur noch im Freien statt. Vor Corona kamen hier täglich 600 bis 700 Obdachlose und Arme her. Heute schieben sich in einer Stunde 120 an der Essensausgabe vorbei. Sie sind sehr diszipliniert, niemand will Ärger. Die 1,50 Meter Abstand, die auf aufgeklebten Zetteln in mehreren Sprachen empfohlen sind – geschenkt. Social Distancing kennen sie. Und das nicht erst seit Corona.
Doch die Pandemiekrise bringt die Nothelfer bundesweit selbst in allerhöchste Not. Gerade die Obdachlosenhilfe muss wegen der verordneten Kontaktbeschränkungen extrem zurückgefahren werden. Betroffen sind nach Informationen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) übers Jahr gesehen schätzungsweise bis zu 680 000 Menschen, 40 000 von ihnen leben permanent auf der Straße.
Ganz schwierig sind Essensausgaben, Tagesaufenthalte oder die medizinische Versorgung. Die Tagesaufenthalte gewährleisten Hygienemöglichkeiten oder Angebote zum Wäschewaschen. Im modernen Hygienecenter der Bahnhofmission konnten sich bislang vier Männer gleichzeitig duschen und rasieren. Vorbei. Einer darf jetzt rein, dann muss desinfiziert werden, danach erst der Nächste. Angesichts dieser Zustände empfinden viele Betroffene die Aufrufe zur unermüdlichen Handhygiene und dem Nicht-ins-Gesicht-Fassen fast als zynisch.
Unorthodoxe Lösungen
In den Unterkünften sind Mehrbettzimmer die Regel, viele müssen daher geschlossen werden. Manche Kommunen versuchen, Ferienwohnungen oder andere Räume anzumieten. Wie unorthodox Lösungen ausfallen können, zeigt ausgerechnet die französische Millionärsmetropole Cannes an der Côte d’Azur.
Die Filmfestspiele, die in diesem Jahr wegen der Pandemie ausfallen, stellten ihr Festspielhaus für bis zu 80 Menschen ohne Wohnung zur Verfügung. Es gibt Möglichkeiten zum Duschen, Schlafen und Essen. Das Einhalten von Abstandsregeln und Hygienevorschriften werde sichergestellt, heißt es.
In den USA hat der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom 150 Millionen Dollar für die Obdachlosenhilfe zur Verfügung gestellt. Davon werden unter anderem 1300 Wohnwagen gekauft – und leer stehende Hotels in Isolationshäuser für Infizierte umgewandelt.
Doch hierzulande benötigen viele Wohnungslose noch dringender als ein Dach überm Kopf Beratung, wie sie an Geld kommen können – das ihnen zusteht. „Die ohnehin äußerst schwierige Lebenssituation Wohnungsloser hat sich durch Corona noch drastisch verstärkt“, sagt BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke. „Flaschen sammeln, Straßenzeitungen verkaufen, betteln – all das kann nun kaum noch zum Einkommen beitragen.”
Inwieweit Inhalte der Milliardenpakete der Bundesregierung zur Linderung der Corona-Folgen „ganz unten” ankommen, ist ungewiss. Soziale Einrichtungen sind als Empfänger vorgesehen, versichert CDU-Sozialexperte Peter Weiß. „Außerdem haben wir den Zugang zum Arbeitslosengeld II erleichtert, damit schnell geholfen wird.”
In der Zentralen Beratungsstelle der Caritas für Menschen in Wohnungsnot in Berlin-Mitte stehen sie nun vor der Tür. Viele Wohnungslose haben hier ihre Postadresse, um für das Jobcenter erreichbar zu sein. „Das versuchen wir alles aufrechtzuerhalten”, sagt Leiterin Elfriede Brüning.
Die Post wird aus dem Fenster gereicht, allgemeine Beratung gibt es telefonisch oder online: „Nur wer persönliche Beratung benötigt, kommt hier zum Einzelgespräch rein.“ Am Empfang ist eine Plexiglasscheibe zum Schutz der Mitarbeiter aufgestellt worden. Alles ziemlich provisorisch, oder? Brüning lacht laut: „In der Wohnungslosenhilfe waren wir schon immer sehr kreativ.”
Eigentlich aber ist weder ihr noch den anderen Helfern zum Lachen zumute. Das Gros der Teams besteht aus Ehrenamtlichen – und von denen sind die meisten Rentner. „Risikogruppe”, sagt Nadolny. „Die habe ich alle nach Hause geschickt.” Das waren 180 von insgesamt 213 Helfern. Nun bastelt der Chef an ausgefeilten Dienstplänen. „Ja, wir müssen uns ein bisschen umstellen”, sagt er fröhlich. Sich selbst hat er einen Zwölf-Stunden-Tag verordnet. Die verbliebenen Ehrenamtler arbeiten, bis sie umfallen.
Mit Gesichtsmasken, mit Desinfektionsmitteln, mit Handseifen, mit Schutzkleidung müssten sie alle viel besser ausgestattet werden, fordert Werena Rosenke: „Wenn es hier zu Infektionen kommt, droht ein Katastrophenszenario, das ich mir nicht ausmalen will.“
Die Betroffenen selbst gehen unterschiedlich mit der Situation um. Der 79-jährige Franz aus Oberfranken reist mit dem Zug durch Deutschland, solange ihn kein Schaffner rauswirft. Er lebt nach eigenen Angaben seit elf Jahren auf der Straße und fürchtet keine Infektion. „Corona?”, fragt er verächtlich und schlürft an seinem Kaffee. „Ich habe andere Probleme.”
Der 73-jährige Berliner Joachim meidet hingegen möglichst jeden Kontakt. Er ist noch nicht lange auf der Straße, erzählt er. In Thailand warte seine Frau auf ihn. Leider habe man ihm gerade den Rucksack mit seinen Papieren gestohlen, aber er komme ja ohnehin jetzt nicht aus Deutschland raus. Seine Devise: „Ich will das hier überleben.”
Die Lage eskaliert sehr schnell
Über die Zahl von Infektionen unter Obdachlosen ist wenig bekannt. „In Hamburg ist eine Einrichtung mit 300 Bewohnern wegen eines Falles unter Quarantäne gestellt worden”, berichtet Rosenke. „Ich fürchte, wenn wir das häufiger haben, eskaliert die Lage sehr schnell.” Großstädte wie Berlin oder Hamburg haben immerhin das Winternotprogramm bis Ende Mai verlängert, so bleiben Schutzräume geöffnet.
Wilhelm Nadolny schaut auf die schier unendliche Schlange seiner Gäste. Ihn bewege sehr, dass im Moment viele Leute anriefen, die helfen wollen. „Gebt Obdachlosen in diesen Zeiten einen Euro mehr als sonst oder spendet Hilfsorganisationen”, rät der junge Mann dann. „Wir müssen da jetzt als Gesellschaft durch. Schauen wir mal, wie es nächste Woche aussieht.”
Quelle: Hardt
HAZ vom 28.03.2020, S. 18:
Helfer der Caritas kümmern sich um Obdachlose
Menschen, die auf der Straße leben, leiden besonders unter der Pandemie / Den Schutz einer Wohnung haben sie nicht
Von Simon Benne
Natürlich hat sie all die Aufrufe gehört. Die Appelle, soziale Kontakte zu reduzieren und die Wohnung möglichst nicht zu verlassen. Für sie klingt das wie Hohn. „Überall heißt es, man soll zu Hause bleiben“, sagt sie bitter. „Ich frage mich nur, wie ich das machen soll.“ Die 65-Jährige, die sich Klarissa nennt, hat kein Zuhause. Sie schläft meist neben anderen Obdachlosen in der U-Bahn-Station Kröpcke. „Da ist vielen egal, ob man Abstand zueinander hält“, sagt sie.
Caritas stockt Angebot auf
Für Menschen wie sie ist durch Corona alles anders geworden. Zahlreiche Hilfseinrichtungen bleiben wegen der Ansteckungsgefahr derzeit geschlossen. „Der Treffpunkt Kompass ist zu, und beim Kontaktladen Mecki gibt es morgens nur noch Brötchen an der Tür“, sagt Klarissa. Obdachlose dürfen auch nicht mehr in Gruppen zusammensitzen, obwohl die Clique ihnen oft sozialen Halt gibt. „Das alles ist psychisch sehr belastend“, sagt Klarissa. Dafür besucht sie jetzt regelmäßig den Tagestreff der Caritas am Leibnizufer.
Dieser hat sein Angebot spontan erweitert: Im Garten sind jetzt zwei Zelte aufgebaut; Kreuze auf den Tischen dienen als Abstandsmarkierungen. Es dürfen jeweils nur 30 Personen auf das Gelände. Helfer in Schutzkleidung verteilen hier Lunchpakete und geben täglich um 17 Uhr Essen aus. „Bei uns können Obdachlose auch weiterhin duschen, wir desinfizieren die Räume häufig“, sagt die Sozialarbeiterin Ramona Pold.
Vormittags gibt es hier regelmäßig eine ärztliche Sprechstunde. Erzieherinnen, deren Kindergärten momentan geschlossen sind, helfen ehrenamtlich. Und Restaurants, die ihre Lebensmittel derzeit ohnehin nicht verarbeiten können, spenden diese an den Tagestreff. „Die Solidarität ist groß, und die Disziplin unter den Wohnungslosen auch“, sagt Ramona Pold. Sie wünscht sich allerdings, dass die Helfer besser mit Schutzmasken versorgt werden. „Und die Parks sollten für Obdachlose zum Campieren freigegeben werden.“
Was tun bei Quarantäne?
Vertreter von Hilfsorganisationen schlagen angesichts der Pandemie Alarm: „Was tun wir, wenn sich Corona unter Obdachlosen verbreitet?“, fragt Andreas Schubert vom Caritasverband besorgt: „Eine Quarantäne ließe sich nur schwer umsetzen.“ Männerwohnheime stoßen bereits jetzt an ihre Kapazitätsgrenzen. „Einige unserer Zwei-Zimmer-Appartments haben wir nur als Einzelzimmer belegt, falls ein Quarantänefall auftritt“, sagt Horst Vorderwülbecke, der Vorsitzendes Kolpinghauses. Doch eine wirkungsvolle Isolation ließe sich kaum realisieren, die Krankheit würde sich in der Szene ungehindert verbreiten.
„Viele Betroffene husten und sind erkältet“, sagt Sandra Lüke von der Hilfsinitiative Café Bollerwagen. „Sie rennen auf der Straße herum und können nirgendwo bleiben, sie können auch nicht duschen“, sagt sie. Um wenigstens ihre hygienische Lage zu verbessern, fordert Reinhold Fahlbusch, Begründer der Initiative Stimme der Ungehörten, Schwimmbäder für Wohnungslose zu öffnen. „Auch Jugendherbergen und nicht genutzte Flüchtlingsunterkünfte, aber auch kirchliche und schulische Einrichtungen müssen sofort für Obdachlose geöffnet werden.“
Die Landesarmutskonferenz, ein Dachverband mehrerer Initiativen, hat die Landesregierung aufgefordert, angesichts der Krise sofort eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft zu gründen. „Wir brauchen nachhaltigen, bedarfsgerechten und sozialen Wohnraum“, heißt es in dem Appell. Für Menschen wie Klarissa würde das höchstens langfristig etwas ändern. „Im Moment fühlt es sich so an, als wäre jeder Tag der letzte“, sagt die 65-Jährige. Ihr Freund liegt seit ein paar Tagen im Krankenhaus. „Er hat Probleme mit der Lunge, aber kein Corona“, sagt sie. Es klingt, als wären sie wenigstens für dieses Mal noch davongekommen.
Quelle: Benne
HAZ vom 19.03.2020, S. 16:
Hannöversche Tafel schließt Ausgabestellen
„Eine bittere Pille“: Die Lebensmittelhilfe für Bedürftige wird in Hannover weitgehend eingestellt
Von Andreas Schinkel
Die Corona-Krise trifft die Schwächsten: Bedürftige, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, werden nicht mehr an den sechs Ausgabestellen der Hannöverschen Tafel versorgt. „Wir schließen unsere Ausgaben in Hannover und in Garbsen“, sagt Horst Gora, Leiter der Hannöverschen Tafel. Das Ansteckungsrisiko für die überwiegend älteren ehrenamtlichen Helfer sowie für die ebenfalls meist betagten Gäste sei zu hoch. „Das ist eine bittere Pille, die wir schlucken müssen“, sagt Gora.
Lebensmittel aus Überproduktion
An den Ausgaben in Linden, Vahrenheide, Roderbruch, Garbsen, Kronsberg, Mühlenberg und Ledeburg verteilen Helfer regelmäßig Obst, Gemüse und Backwaren. Die Waren befinden sich alle in einem hochwertigen Zustand, sie stammen aus Überproduktion, weisen Verpackungsfehler auf oder sind nicht mehr allzu lange haltbar. Gekocht wird an den Standorten nicht, es gibt folglich keine zubereiteten Mahlzeiten. Zu den Gästen der Tafel zählen weniger Obdachlose, als vielmehr arme Menschen, die mit Hartz-IV auskommen müssen. Mehr als 120 Ehrenamtliche engagieren sich für die Hannöversche Tafel.
Eingeschränkte Touren zu Wohnheimen
„Wir müssen unsere Helfer schützen“, sagt Gora. Viele von ihnen hätten sich in den vergangenen Tagen gemeldet und ihre Angst vor dem Virus zum Ausdruck gebracht. Auch die Kirchengemeinden, in deren Räumen die Ausgabestellen meist liegen, hätten alle Veranstaltungen abgesagt – das zeige den Ernst der Lage. „Jetzt fahren wir nur noch eingeschränkte Touren zu den Supermärkten und sammeln Lebensmittel ein“, sagt Gora. Die Waren liefere man an Wohnheime, etwa für Flüchtlinge. Dort könne man die Lebensmittel nahezu ohne Kontakt zu Menschen abgeben.
Auch die „Ahlemer Mahlzeit“, Parkstraße 2, stellt wegen der Corona-Pandemie ihre Ausgabe ein. An jedem Freitagmittag verteilten Helfer Lebensmittel an etwa 70 Bedürftige. Auch die Tafel in Burgdorf hat ihren Betrieb eingestellt. „Von 106 Tafeln in Niedersachsen-Bremen sind neun dicht“, sagt Manfred Jabs, Leiter der Landestafeln. Manche böten jetzt Lieferdienste an. Er überlasse die Entscheidung, wie es weitergehen solle, den Kollegen vor Ort, sagt Jabs.
Lindener Tisch bleibt geöffnet
In Linden will der Lindener Tisch weitermachen. Im Dunkelberggang 7 gebe es weiterhin ein Mittagessen und die Ausgabe von Lebensmitteln, sagt ein Mitarbeiter. „Aber wir lassen nur kleine Gruppen rein, nicht alle auf einmal“. Die Hannöversche Tafel hält von solchen Vorkehrungen wenig. „Das haben wir zuvor auch versucht“, sagt Gora. Die Ansteckungsgefahr werde dadurch aber kaum verringert.
Quelle: Villegas
HAZ vom 14.03.2020, S. 17:
Neue Anlaufstelle für Suchtkranke
Mit einem neuen Konzept für Obdachlose will die Stadtverwaltung die Verelendung der Trinkerszene rund um den Hauptbahnhof bekämpfen
Von Jutta Rinas
Ein neues Konzept für Suchtkranke in der Innenstadt soll die wachsende Trinker- und Obdachlosenszene in Hannover noch in diesem Jahr eindämmen. Zu den Maßnahmen, mit denen die Stadtverwaltung einer weiteren Verelendung in der Innenstadt entgegenwirken will, gehört auch eine neue Anlaufstelle für wohnungslose suchtkranke Menschen in der vom Schiffgraben abgehenden Johanssenstraße. Betreiber soll die Caritas Hannover sein.
Das Caritas Kontaktcafé ist nur eine von mehreren Maßnahmen, die neben dem städtischen Ordnungsdienst die angespannte Situation rund um den Hauptbahnhof entschärfen sollen. Am Montag wird das Gesamtpaket im städtischen Sozialausschuss vorgestellt. Im Haushalt für 2020 stehen 200.000 Euro dafür zur Verfügung. Das Mehrheitsbündnis hatte die Verwaltung schon Ende 2018 damit beauftragt, ein Konzept für Suchtkranke in der Innenstadt zu entwickeln. Es habe sich gezeigt, dass Sicherheitsdienste kein Garant für die Befriedung schwieriger Räume in der City seien, hatte die damalige sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Katrin Langensiepen, gesagt: „Wir brauchen mehr“.
Der Hintergrund: Die Trinker-, Drogen- und Obdachlosenszene rund um den Hauptbahnhof hatte sich in den Jahren zuvor stetig vergrößert. „Das Stadtbild rund um den Bahnhof Hannover in Hannover ist geprägt von wohnungslosen, psychosozial verelendeten Menschen unterschiedlichster Herkunft“ heißt es auch in einem Kurzkonzept der Caritas, in dem sie die Ziele ihrer neuen Anlaufstelle mit dem Namen „Caritas Kontaktcafé“ beschreibt. 4000 Menschen in Hannover seien von Wohnungslosigkeit bedroht, immer mehr Menschen lebten auf der Straße, heißt es. Man wolle in dem ehemaligen Ladenlokal mit Platz für etwa 30 Personen ein Gruppenangebot für suchtgefährdete und drogenabhängige Menschen schaffen, die wohnungslos oder von Obdachlosigkeit bedroht seien, sagte eine Sprecherin. Auch die Tagesangebote für Suchtkranke im S.O.S.-Bistro/ Neues Land sollen künftig von der Stadt erweitert werden. Das neue Konzept für Suchtkranke in der Innenstadt sieht überdies eine medizinische Pflegekraft vor. Sie soll vor Ort Obdachlosen helfen, die sich aufgrund ihrer Sucht nicht einmal mehr um offene Wunden oder Abszesse kümmern.
Quelle: Daniel Meier
Der städtische Ordnungsdienst der Stadt war erst unlängst in die Kritik geraten. Eine repräsentative Umfrage der Verwaltung hatte ergeben, dass die Hannoveraner mit ihrer In- nenstadt nicht mehr so zufrieden sind wie noch vor einigen Jahren. Aggressives Betteln sowie Schmutz auf Straßen und Plätzen verärgere die Stadtbewohner, hieß es. Ordnungsdezernent Axel von der Ohe wies die Kritik zurück. Gegen aggressive Bettelei gehe der Ordnungsdienst umgehend vor und erteile auch Platzverweise, sagte er. Künftig will die Stadt auch Fahrkarten zur kostenlosen Hin- und Rückfahrt zu Notschlafplätzen ausgeben. Bauliche Maßnahmen sollen überdies die offene Drogenszene in der Fernroder Straße befrieden. Vor dem Drogenkonsumraum „Stellwerk“ hatte es zuletzt erhebliche Probleme mit den Abhängigen, aber auch mit Dealern gegeben. Schutz vor Regen und Sonne, Sitzelemente und ein Urinal sollen der Verelendung auf dem Platz vor dem „Stellwerk“ künftig entgegenwirken.
HAZ vom 30.01.2020, S. 18:
Neue Schuhe für Obdachlosen: Security-Männer zeigen Herz
Hilfsbedürftiger läuft auf Socken kilometerweit bei Kälte und Regen zum Jobcenter – und die Sicherheitsleute helfen ihm kurz entschlossen
Von Peer Hellerling
Quelle: Schaarschmidt
Jeden Tag eine gute Tat: Das haben sich vier Angestellte eines Sicherheitsunternehmens gedacht, die im Jobcenter an der Vahrenwalder Straße in Hannover ihren Dienst machen. Sie halfen einem Obdachlosen, der am Mittwochmittag bei Kälte und Schmuddelwetter barfuß vor der Tür stand. Irgendjemand habe ihm die Schuhe gestohlen, erklärte der Obdachlose. Beim Amt hoffte er auf etwas Geld für eine Neuanschaffung. Kurzerhand legten die vier Security-Leute Geld zusammen und besorgten dem Obdachlosen noch vor Ort ein neues Paar Schuhe.
„Er hatte sichtlich Schmerzen, als er vor dem Jobcenter ankam“, sagt Najib-Mohammad Anwari. Der Obdachlose sei vom Kröpcke zu Fuß die rund 4,5 Kilometer bis zum Jobcenter an der Vahrenwalder Straße/Ecke Kabelkamp gelaufen. „Da wäre ich auch k. o. gewesen“, sagt der 48-jährige Anwari. „Und der Herr hatte nur nasse Socken, da sind Schmerzen kein Wunder.“
Sein Kollege Yaqoob Haidary war der Erste, der den Obdachlosen zu Gesicht bekam. „Es war kurz vor 12 Uhr“, erinnert er sich. Zunächst habe der 39-Jährige gar nicht mitbekommen, dass dem Mann etwas fehlt. „Ich meinte noch zu ihm, dass er es aber gerade noch rechtzeitig geschafft habe“, sagt Haidary. Punkt Mittag macht das Amt zu. „Wir alle haben sofort gefragt, was los ist“, sagt Haidary. Er, Anwari und ihre beiden Kollegen Sayed Elyas Razavi (29) und Mechmet Chousein-Oglu (40) kümmerten sich umgehend um den Mann und begleiteten ihn ins Jobcenter. „Unsere Herzen haben geklopft“, sagt Razavi. Den Männern vom HBC Sicherheitsdienst sei sofort klar gewesen, dass sie dem Obdachlosen helfen müssen.
„Ich hatte schon meine Frau gefragt, ob sie von zu Hause Schuhe vorbeibringen kann“, sagt Haidary. Auch ein Besucher des Jobcenters habe spontan angeboten, dem Obdachlosen sein Paar zu überlassen. „Und das, obwohl der Mann sicher auch nicht viel besitzt“, sagt Anwari. Die vier Sicherheitsleute hatten aber eine bessere Idee: Sie gingen zum Discounter in der Nachbarschaft. „Dort hatten sie ein normales Paar Schuhe“, sagt Haidary. „Nur Socken gab es leider nicht.“
Während der Obdachlose wegen eines anderen Anliegens in der Notfallvorsprache saß, kauften die Security-Leute die neuen Schuhe. Laut Jobcenter war der Mann 35 bis 40 Jahre alt und offenbar Deutscher. Nähere Angaben machte das Amt nicht. Auch der stellvertretende Teamleiter Kenan Bigli bekam die spontane Hilfsaktion mit: „Ich bedanke mich ganz herzlich bei unseren Security-Mitarbeitern“, sagt er. „Wir selbst können leider immer nur mit Bargeld oder Gutscheinen weiterhelfen.“
Auch der Obdachlose sei überschwänglich vor Freude gewesen. „Er hat sich tausendmal bei uns bedankt und jeden umarmt“, sagt Chousein-Oglu. „Das wäre gar nicht nötig gewesen.“ Für die Sicherheitsleute sei es schlicht ein Akt der Nächstenliebe gewesen, „einem Menschen in Not zu helfen“. Traurig macht Anwari allerdings, dass der barfuß laufende Obdachlose auf seinem Weg zum Jobcenter zwar von vielen angeguckt worden sei. „Aber niemand hat ihm geholfen.“
HAZ vom 25.01.2020, S. 23:
Schlafsäcke für Obdachlose
Bluesky organisiert Sammelaktion
Der Outdoorausrüster Bluesky engagiert sich mit einer besonderen Aktion für die Obdachlosenhilfe in Hannover. Für die Menschen, die auch jetzt in der kalten Jahreszeit auf der Straße übernachten, übergab das Unternehmen jetzt 20 Schlafsäcke. Diese sind zwar gebraucht, aber noch gut nutzbar. Das Geschäft hat dafür die Aktion Bluesky Warm Night angestoßen – und die Kunden haben eifrig mit geholfen. Sie haben beim Kauf eines neuen Schlafsacks im Geschäft einen Rabatt von 50 Euro erhalten, wenn sie ihren alten, aber noch gut nutzbaren Schlafsack zur Weitergabe an Obdachlose mitbrachten.
Ilka Neinhardt, Inhaberin des Outdoorgeschäfts, wollte schon lange eine solche Aktion durchführen und freut sich über die positive Resonanz. Es wurden sogar Schlafsäcke abgegeben, ohne dass die Menschen danach einen neuen Schlafsack gekauft hätten, sagt Verkäufer Niklas Scherer. Diese wurden natürlich auch angenommen. Außerdem sind viele der abgegebenen Schlafsäcke aktuell und von hoher Qualität. Die Aktion läuft seit mittlerweile sechs Wochen, und bisher kamen bereits 20 Schlafsäcke zusammen. Noch bis zum 31. Januar können weitere Schlafsäcke bei Bluesky an der Kurt-Schumacher-Straße abgegeben werden.
Andreas Pfetzing, ehrenamtlicher Helfer bei der Obdachlosenhilfe Hannover, freut sich sehr über die Anzahl der abgegebenen Schlafsäcke. Jeder eEinzelne wird dringend benötigt und sofort an die Obdachlosen verteilt. Die Obdachlosenhilfe veranstaltet heute eine Sammelaktion auf dem Opernplatz. Zwischen 9 und 18 Uhr nimmt der Verein – wie bereits gestern – Sach- und Geldspenden entgegen und informiert über seine Arbeit.
Quelle: Villegas