Ein Tag auf der Straße - ein Selbstversuch
Seit einigen Monaten sind wir für den Verein „Ganz unten e.V.“ tätig. In dieser Zeit haben wir einige soziale Einrichtungen besuchen und deren Tätigkeitsgebiete betrachten können. Auch Kontakte zu ehemaligen Obdachlosen und aktuellen Obdachlosen konnten während der vergangenen Monate geknüpft werden. Um die Situation auf der Straße besser nachvollziehen zu können, haben wir uns zu einem Selbstversuch entschieden. Wir werden einen Tag auf der Straße verbringen.
Natürlich sind in unserem Selbstversuch andere Voraussetzungen gegeben als für eine Person, die tatsächlich obdachlos geworden ist. Beispielsweise haben wir festes Schuhwerk, dem Wetter angepasste und neuwertige Kleidung usw. Desweiteren sind wir erst vor kurzem von zu Hause aufgebrochen. Durch die Tätigkeit im Verein ist uns auch bereits bekannt, welche Hilfseinrichtungen wo und wann aufgesucht werden können, um an Lebensmittel zu gelangen. Uns ist auch bekannt welche Beratungsstellen bzw. Notunterkünfte zur Verfügung stehen. Dieses Wissen blenden wir in unserem Selbstversuch aus, denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine erst vor kurzem obdachlos gewordene Person dieses Wissen teilt.
Unser Selbstversuch startet um 10 Uhr am Schünemannplatz in Ricklingen. Ab diesem Zeitpunkt stehen uns keine Lebensmittel, keine Fahrkarte und keine anderen finanziellen Mittel zur Verfügung.
Einen Tag zuvor regnete es sehr heftig. Unsere Gedanken kreisten in erster Linie um das Wetter, da wir uns bereits jetzt Sorgen machten wo wir einen ganzen Tag Schutz vor dem Regen finden könnten. Aber wir hatten Glück – außer starken Windböen blieb es trocken. Trotz der Sonne, die leicht schien, war es kühl. Nach längerem Sitzen auf Bänken und Steinen fingen wir an zu frieren. Wir machten uns auf die Suche nach Pappe. An einem Straßenrand fanden wir alte Kartonage, welche wir zerrissen und als Sitzunterlage benutzt haben. Mit einer Sitzunterlage ließ es sich besser auf dem kalten Stein aushalten.
Uns fiel auf, dass wir anfingen, andere Menschen zu beobachten. Man wollte gerne selber im Café sitzen, Shoppen oder auch nach Hause gehen. Doch dies war nicht möglich, denn im Realfall haben wir keinen anderen Rückzugsort als die Straße.
Im Verlauf der ersten zwei Stunden konnten wir die Zeit mit Gesprächen füllen. Ein Privileg, denn die Zeit verging wie im Flug, was natürlich für eine einzelne Person zum Problem wird. Es fehlt dann der soziale Kontakt.
Unser erstes richtiges Problem entstand nach der Frage: Wo finden wir eine Toilette, die nicht durch Schranken bzw. Münzeinwurf zugänglich und nicht "im Grünen“ ist?
Wir dachten an öffentliche Toiletten, die von innen mit Münzen abgeschlossen werden können, wussten aber nicht, wo sich eine davon in unserer Nähe befand. Daraufhin entschieden wir uns in einem Lokal auf die Toilette zu gehen, mit der Konsequen, böse Blicke zu ernten. Beim Verlassen des Lokals haben wir sofort gemerkt, dass eine Person, die dem Erscheinungsbild nach „ungepflegt“ auftritt, nicht an der Bar vorbeigekommen wäre, weil wir schon misstrauisch beobachtet wurden. Im Laufe des Tages hätten wir nicht dort zurückkehren können.
Bevor wir jedoch diese bereits genannten Erfahrungen gemacht haben, haben wir morgens am Schünemannplatz eine grobe Route für unseren Tag auf der Straße geplant. Zu Fuß sind wir diese Route gelaufen, die an uns bekannten Treffpunkten von Obdachlosen und Wohnungslosen vorbeiführte, von Ricklingen über Linden am Ihme-Ufer entlang zum Raschplatz. Diese Viertel wurden von uns aufgrund der einfachen Erreichbarkeit ausgewählt.
Während des Tages ist uns schnell aufgefallen, dass man sich „treiben“ lässt. Man verweilt an Orten, an denen etwas passiert: z.B. eine Sportgruppe die Übungen absolviert, Volksfeste im Aufbau, Familientreffen im Park. Die Uhrzeit verliert schnell an Wert, da keine Gedanken an Termine verschwendet werden müssen, da an diesem Tag eh keiner einen erwartet. Man merkt nur, wenn der Magen knurrt oder es dunkler wird, dass Zeit vergangen ist.
Unseren Durst stillten wir an den Trinkbrunnen in der Innenstadt. Unseren Hunger hätten wir theoretisch an stehen gelassenem Essen in Restaurants oder aus einem Mülleimer fischen können. Allerdings ist unsere Hemmschwelle zu hoch gewesen und unsere Not nicht ausreichend groß, um diesen Schritt zu gehen.
Zum Zeitpunkt unseres Selbstversuchs ist in Hannover das Oktoberfest. Als wir dort durchgingen, haben wir auf dem Gelände viele Pfandflaschen und -gläser entdeckt, welche man theoretisch zu Geld hätte machen können. Da wir jedoch Menschen gesehen haben (vermutlich Obdachlose), die die Flaschen und Gläser bereits einsammelten, haben wir darauf verzichtet, da wir ja eigentlich nicht darauf angewiesen sind.
Auch Bierflaschen in der Stadt haben wir nicht eingesammelt und diese für Menschen gelassen, die das Pfandgeld dringender benötigen. Hätten wir das gesehene Pfand eingetauscht, wäre sicherlich ein kleiner Einkauf von ca. 5 Euro möglich gewesen.
Im Laufe des Tages ist uns weiter aufgefallen, dass sich bereits früh am Morgen viele Menschen an einschlägig bekannten Treffpunkten aufhalten und Bier tranken.
Am Nachmittag sind uns Gesprächsthemen ausgegangen, und man hatte das Bedürfnis nach Abwechslung. Man wollte mit anderen Menschen in Kontakt treten aber auch mal alleine sein. Wir kamen an vielen Bücherregalen vorbei. Man kann sich kostenlos Bücher nehmen und lesen oder die Stadtbücherei besuchen. In Häusereingängen lagen kostenlose Zeitungen, die man hätte mitnehmen können.
Würden wir jedoch auf der Straße leben, glauben wir, dass wir Anschluss suchen müssten, da der Tagesablauf doch sehr schnell eintönig wird. Ebenfalls aus Schutzgründen und um an Informationen über soziale Einrichtungen zu gelangen, ist es aus unserer Erfahrung heraus hilfreich, ein „Netzwerk“ aufzubauen. Für eine alleinstehende Person ist es z.B. auch schwieriger, das letzte Hab und Gut zu schützen bzw. auch Informationen über sichere Schlafgelegenheiten außerhalb sozialen Einrichtungen zu erhalten sowie private Anlaufstellen für Lebensmittelspenden.
Umso näher der Abend kam, desto kälter wurde uns. Draußen bleiben war keine Option. Im Bahnhof liefen wir auf und ab. Theoretisch hätten wir durch das Pfandsammeln etwas verdient. Wir kauften uns einen Kaffee für einen Euro. Dann saßen wir da und tranken sehr langsam, um die Zeit im Warmen zu genießen. Doch allmählich wurde uns unerträglich langweilig, und die Nacht war schon lange angebrochen. Wir wussten schon jetzt nicht mehr, was wir machen sollten. Es ist unerträglich, wenn man Zeit hat, aber damit nichts Vernünftiges anfangen kann. Wie muss es dann erst sein, wenn man auf der Straße lebt und jeden Tag Zeit „totschlagen“ muss?
Wir waren uns einig, dass wir Angst vor der Nacht außerhalb des Bahnhofs hatten. Jedoch konnten wir uns nicht ewig dort aufhalten, wir wurden schon komisch beäugt.
Theoretisch hatten wir keine Ahnung, wo eine kostenlose Unterkunft für uns zur Verfügung stehen könnte. Für eine Kontaktaufnahme bei der Bahnhofsmission waren wir noch nicht bereit. Einzugestehen, dass man kein Zuhause hat und im Leben versagt hat, ist hart. Wir wussten, wir hätten die Nacht irgendwo wach verbracht bzw. nur abwechselnd geschlafen. Als uns das klar wurde, haben wir beschlossen, den Selbstversuch abzubrechen.
Wir konnten abbrechen – in unser altes Leben zurückkehren. Ein Obdachloser kann dies nicht – die Straße ist sein Leben!
Insgesamt hat uns der Selbstversuch geprägt und gezeigt, dass man mit offenen Augen durch das Leben gehen sollte und seinen Mitmenschen in Notsituationen seine Unterstützung anbieten soll, wenn diese dringend benötigt wird!
„Bäume kämpfen um Licht und Leben. Vögel, Tiere und Menschen, sie alle kämpfen. Und gerade dieses Kämpfen nähert sie alle mehr und mehr der Vollkommenheit“.
Zane Grey
Studenten da und fr